Startseite
Schweiz
Raimund Rodewald spart nicht mit markigen Worten, auch gegen Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Dass er als Umweltschützer damit auch in Widersprüche gerät, ist ihm bewusst.
Raimund Rodewald ist ein ruhiger Mensch. Wenn er spricht, dann überlegt und selten laut. An der Spitze seiner Aussagen ändert das nichts. Sie unterstreichen, dass mit der Kritik des obersten Schweizer Landschaftsschützers immer zu rechnen ist, wenn die Rede ist von grossen Bauprojekten.
Und solche brauche es unbedingt, bekräftigte Umweltministerin Simonetta Sommaruga diese Woche, um die Energieversorgung zu gewährleisten. Im Interview spricht Rodewald über den Wert der Landschaft, Bulldozer-Mentalität und seine Kompromissbereitschaft.
Herr Rodewald, sind Sie ein kompromissfähiger Mensch?
Raimund Rodewald: Sehr. Ich würde sogar noch weitergehen: Lieber Konsens als Kompromisse. Das ist mein Credo.
Wie viele hängige Einsprachen unter anderem gegen Energieanlagen liegen denn aktuell auf Ihrem Pult?
Es sind genau neun Verfahren von Energieanlagen hängig. Für alle Rechtsfälle lag im letzten Jahr unsere Erfolgsbilanz bei 73 Prozent. 86 Prozent aller Fälle konnten schon auf Stufe Einsprache erledigt werden. Es gibt allerdings einige kompliziertere Verfahren, welche die Gerichte lösen müssen. Diese dauern oft etwas länger.
Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat diese Woche angekündigt, dass sie die Einspracheverfahren für grosse Energieprojekte vereinfachen will. Trifft Sie das?
Ich finde die Idee unterstützenswert, aber sie hat Schattenseiten. Grundsätzlich kommt es uns entgegen, wenn Verfahren künftig zusammengenommen werden und nicht parallel oder sogar etappenweise behandelt werden: zuerst die Einsprache gegen eine Rodung, dann für den Gewässerschutz und so weiter. Aber das Verbandsbeschwerderecht und die Sorgfalt beim Umweltverträglichkeitsbericht müssen gewahrt werden, besonders bei Grossprojekten.
Von den Gerichten sagte Sommaruga, sie erwarte, dass sie sich Zurückhaltung auferlegten, wenn es um das Umstossen von bundesrätlichen Entscheiden ginge.
So etwas hätte sie als Justizdirektorin sicher nicht gesagt. Sie kann den Gerichten nichts vorschreiben. Dass Sommaruga den Gerichten einen politischen Auftrag gibt, geht gar nicht.
Die Umweltministerin hat kürzlich an einem runden Tisch 15 Energieprojekte diskutiert. Verschiedene Umweltschutzverbände bekannten sich zu diesen in einer Erklärung – aber Sie sind ausgeschert. Wie passt das zusammen mit Ihrem kompromissfähigen Selbstbild?
Das war genau meine Argumentationslinie. Es ging mir nur um ein Projekt, der geplante Speichersee am Gornergletscher in einer national geschützten monumentalen Naturlandschaft. Dass man deswegen den grossen Konsens hat scheitern lassen, leuchtet mir nicht ein. Ich hätte es begrüsst, wenn man dieses Projekt zurückgestellt hätte. Wir wären unglaubwürdig geworden, hätten wir die Liste unterstützt – und hätten dann später Einsprache dagegen erhoben.
Steht das denn schon fest?
Ja, wenn das Projekt so weiterverfolgt wird, wie vorgestellt.
Sie wehren Sich nicht nur dort, sondern beispielsweise auch gegen die Idee, Autobahnen mit Solarzellen zu überdachen. Was ist der ästhetische Wert einer Autobahn?
Man muss differenzieren. Bei Abschnitten im Siedlungsgebiet oder solchen, die in Tieflage verlaufen, ist das prima vista kein Problem. Aber beispielsweise die Autobahn am Genfersee zu überdecken, mit ihren Viadukten, wäre problematisch.
Wie stehen Sie zu Solarfeldern in der Freifläche? Beispielsweise im hochalpinen Raum, wie sie Mitte-Fraktionspräsident Philipp Matthias Bregy fordert?
Dafür habe ich kein Verständnis. Fahren Sie mal durchs Wallis: Da muss man die Solarzellen auf den Häusern also suchen. Und das in einem Sonnenkanton. Zuerst soll man mal das Siedlungsgebiet nutzen, die vielen Ferienhäuser, Strassen, sogar Lawinenverbauungen und Bergbahnen, bevor man überhaupt an Freiflächen denkt.
Ist das nicht kleinteilig gedacht? Sie verzetteln sich doch in Tausenden Projekten, dabei geht es um das grosse Ganze: die Energiewende.
Stellen Sie sich vor, wir würden die Biodiversität mit derselben Bulldozer-Mentalität vorantreiben. Die Energiestrategie ist zu einer Ausbau-Hysterie ausgewachsen. Manchmal fühle ich mich an den Plan Wahlen im Zweiten Weltkrieg erinnert: Energie als Anbauschlacht. Aber wir dürfen unsere Ansprüche nicht vergessen an Biodiversität und Landschaftsschutz. Und überhaupt: Ich sehe keinerlei Bemühung zu einer Verbrauchsbeschränkung. Gerade im Bereich der Digitalisierung wachsen die Ansprüche ins Unermessliche. Immer nur Ausbau, Ausbau, Ausbau.
Haben Sie aktuell Angst, dass der Landschaftsschutz überrollt wird?
Die Tendenz dazu ist da. Ich wehre mich aber gegen solche Dystopien und glaube auch, dass die Landschaft immer als Wert anerkannt bleibt.
Geraten Sie denn nicht zunehmend in Widersprüche? Polemisch gesprochen: Welche Gletscher wollen Sie schützen, wenn es dereinst keine mehr gibt?
Richtig, ja. Aber auch wenn Gletscher verschwinden, entsteht etwas Neues. Gerade der Gornergletscher könnte in sechzig Jahren zu einem See werden, wenn er schmilzt. Auch Veränderung ist schützenswert. Auch mit einzelnen der anderen 14 Projekten, die neben dem Gornergletscher auf einer Liste für die Winterstrom-Sicherheit stehen, bin ich nur halb glücklich. Aber das sind dann eben jene Kompromisse, die man eingehen muss.