In der Pflicht
Einsatz des Covid-Zertifikats: Das Parlament darf das nicht aussitzen

Das Covid-Zertifikat gerät in den Fokus. In der vierten Welle soll es plötzlich eine viel stärkere Rolle spielen. Das mag richtig sein. Aber weil der Entscheid die Grundrechte massiv tangiert, muss das Parlament Spielregeln festlegen.

Lucien Fluri
Lucien Fluri
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Das Covid-Zertifikat wird aktuell häufig benötigt, etwa im Nachtleben.

Das Covid-Zertifikat wird aktuell häufig benötigt, etwa im Nachtleben.

Bild: Keystone

Es gibt zwei Erklärungen – und keine ist besonders schmeichelhaft für das Parlament: Man hat diese heikle Frage entweder verschlafen. Oder man wollte sie bewusst aussitzen. In der Hoffnung, dass die Pandemie bald zu Ende ist. Doch jetzt sieht alles etwas anders aus.

Es geht um die Frage, wie das Covid-Zertifikat eingesetzt wird. Die heiss geführte Diskussion dürfte noch verbissener geführt werden, wenn eine vierte Pandemiewelle anrollt. Man will zwar den Teufel nicht an die Wand malen; die Zahl der Hospitalisierungen ist tief. Aber weil die nächste Welle nicht auszuschliessen ist, wäre es an der Zeit, sich Gedanken zum künftigen Einsatz des Zertifikats zu machen. Dürfen plötzlich nur noch Geimpfte, Getestete und Genesene in Bars oder Fitnesscenter?

Viele halbgare Ideen schwirren in der Berner Sommerluft herum

Die Frage spaltet schon jetzt die Gesellschaft. Nur im Parlament, da wurde sie bisher nicht ausgiebig beleuchtet. Zwar hat jede Nationalrätin und jeder Ständerat eine klare Meinung. Derzeit überschlagen sich die «gut gemeinten» Vorschläge zur Pandemiebekämpfung. Von der Kennzeichnung ungeimpfter Pflegekräfte bis zu Ungeimpften, die ihre Covid-Behandlung selbst zahlen sollen, schwirren viele halbgare Vorschläge in der Berner Sommerluft.

Nur mit klaren Regeln wollte sich bisher niemand die Finger verbrennen. Das Parlament sei nicht das geeignete Organ, um über den Einsatzbereich des Covid-Zertifikats zu bestimmen, sagte etwa FDP-Nationalrat Kurt Fluri. «Bis etwas beschlossen ist, kann es Monate dauern.» Der Bundesrat soll aufgrund der epidemiologischen Lage entscheiden. Die heisse Kartoffel wird also weitergegeben.

Das Abwarten entspricht dem bisherigen Vorgehen der Schweiz in Sachen Zertifikat: Aussitzen ist das Gebot der Stunde. Bereits im Dezember war mit den aufkommenden Impfungen klar, dass die Frage kommen wird. Doch getan hat sich nichts. Monatelang wurde die Frage aufgeschoben, obschon das Parlament das Bundesamt für Justiz Gutachten erstellen liess. Schliesslich kam das Zertifikat.

Aber nicht so früh wie möglich, sondern erst, als schon möglichst viele geimpft waren. Man verhinderte so Impfneid und hitzige Diskussionen derer, die auf den Impfstoff warten mussten.

Einzig die SVP wollte im Juni klare Regeln

Und auch im Juni, als das Zertifikat in den Startlöchern war, sah das Parlament – mit Ausnahme der SVP – keinen grossen Regelungsbedarf. Es war die Zeit, als man dachte, dass das Zertifikat ab Juli nur noch für Reisen nötig sein könnte. Als Bundesrat Alain Berset sagte:

«Es mag bizarr tönen, doch in zwei Monaten könnte die Pandemie fast zu Ende sein.»

Eine gewisse Zeit lang war das zögerliche Vorgehen gar nicht schlecht. Man behielt den Ball flach und den Widerstand der Impfgegner möglichst tief. Aber geht das jetzt noch?

Nein. Die Frage betrifft die Grundrechte in hohem Masse. Die einen, oft Geimpfte, sagen – zu Recht: Ihnen darf niemand mehr die Grundrechte streitig machen. Schliesslich geben sie das Virus weniger stark weiter oder erkranken nicht so schwer.

Sie bremsen die Pandemie. Auf der anderen Seite stehen die Impfskeptiker. Sie sagen, jeder habe das Recht, seinen Körper unversehrt zu lassen. Diese freie Entscheidung werde derzeit gering geschätzt. Es bestehe, indirekt, ein massiver Druck, sich impfen zu lassen.

Diese Debatte muss dort gelöst werden, so Konflikte nach bestem demokratischen Wissen und Gewissen beigelegt werden

Welche Seite recht hat, spielt an dieser Stelle gar keine Rolle. Es geht darum, wie diese grundrechtlich äusserst relevante Frage entschieden wird. Ist es wirklich eine Frage, in der man als Parlament abwartet, bis der Bundesrat entscheidet? Oder ist die Frage nicht so wichtig, dass sie ins Parlament gehört, den Ort der öffentlichen und gesellschaftlichen Debatte?

Das Parlament hat sich schon einmal in dieser Pandemie nicht mit Ruhm bekleckert. Als im Frühling 2020 die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg anbrach, brach es seine Sitzungen ab und überliess das Feld dem Bundesrat. Zumindest diese Frage sollte jetzt unter der Bundeshauskuppel entschieden werden. Was die Gesellschaft so sehr spaltet, muss dort gelöst werden, wo Konflikte nach bestem demokratischem Wissen und Gewissen beigelegt werden können.