Das charmante Gesicht täuscht. Ignazio Cassis, der Tessiner Favorit für die Nachfolge von Bundesrat Burkhalter, ist ein schlauer Stratege, der knallhart Interessen vertritt – jene seiner Klientel.
Der Fall sei klar, sagt BDP-Nationalrat Hans Grunder (BE) in der Wandelhalle. «Der da drüben wird gewählt.» Er zeigt auf Ignazio Cassis. Doch dann kommt Grunder ins Grübeln: «Allerdings nur, wenn er vorher aus dem Komitee gegen die Altersvorsorge 2020 zurücktritt. Da muss er neutral sein.»
Die Bahn scheint frei für den ebenso charmanten wie ehrgeizigen Tessiner Nationalrat Cassis, den Mann mit dem Lausbubengesicht. Aber so sicher ist die Sache dann eben doch nicht. Unter anderem wegen der Altersreform. Denn die hängt mit der Bundesratswahl zusammen. Schon zeitlich. Am 20. September ist Bundesratswahl. Vier Tage später Abstimmung.
Die Rentenreform könnte für Cassis zum Stolperstein werden. Als FDP-Fraktionschef und Präsident der Gesundheitskommission spielte er im Nationalrat in den Augen von Rot-Grün und CVP eine zwielichtige Rolle: Er setzte alles daran, die Reform zum Absturz zu bringen. Damit punktete er rechts, aber es trug ihm eine Tirade von SP-Chef Christian Levrat ein, der ihm mit «personellen Konsequenzen» drohte. Cassis sah seine Felle davonschwimmen. Er war sicher, dass Levrat auf die Bundesratswahlen anspielte.
Jetzt, drei Monate später, ist die Lage wieder rosiger. Cassis (56) hat sich mit Levrat bei einer Tasse Kaffee ausgesprochen. Bundesrat Burkhalter hat seinen Rücktritt angekündigt, und nun scheint das Feld wieder weit offen für den rauchenden Gesundheitspolitiker, den Arzt und Hoffnungsträger aus dem Kanton Tessin. In der «Schweizer Illustrierten» ist, welche Fügung, bereits eine Homestory erschienen. Das Amt des Bundesrats interessiere ihn, sagte er. Man sieht ihn mit der Gitarre im Arbeitszimmer und Laubbesen im Garten. Seine Frau bedient den elektrischen Rasenmäher.
Am Mittwoch hat Cassis, spontan wie er ist, seine Ambitionen bestätigt. Am Donnerstag korrigierte der Tessiner Taktiker etwas nach und sagte nichts mehr zu den Bundesratsplänen. «Ich stehe unter Embargo», sagt er. Es wurde mit der FDP vereinbart, dass er sich erst wieder äussert, wenn die Tessiner Sektion die Kandidatur beschlossen hat.
Cassis, der 1,70 grosse Mann mit der Unschuldsmiene, der manche an Napoleon erinnert, weiss sehr genau, was er will. Manchmal zu genau. «Er fährt zickzack, hat aber ein klares Ziel», so eine Nationalrätin. Er gilt als knallharter Lobbyist, namentlich für Krankenkassen und Pharma. Als Präsident führe er die Gesundheitskommission (SGK) ausgezeichnet. «Aber ausgezeichnet in seinem eigenen Sinn», sagt ein Mitglied. Die Interessen der Patienten, heisst es, habe er nicht im Auge. Während sein Vorgänger Guy Parmelin (SVP) transparent und neutral geführt habe, führe Cassis entlang der Interessen seiner Klientel. Strategisch geschickt zwar, aber nicht transparent.
Der Südtessiner Bauernsohn Cassis gilt weniger als Mann der Ideen und Visionen als als Mann der vielen Mandate. Die bringt er manchmal kaum unter einen Hut. So ist er nicht nur FDP-Fraktionschef und SGK-Präsident, er ist unter anderem auch Präsident des Heimverbands Curaviva. Vor allem leitet er den Kassenverband Curafutura (CSS, Helsana, KPT, Sanitas). Dieser Verband, bei dem Cassis Stand 2015 etwa 180'000 Franken für ein Teilzeitpensum verdiente, setzt viel stärker als der ältere Verband Santésuisse auf Wettbewerb und Deregulierung im Gesundheitswesen. Die Verbände liegen über Kreuz, trotzdem sieht SVP-Nationalrat Heinz Brand, Präsident von Santésuisse, Cassis’ Kandidatur positiv: «Eine bürgerliche Optik im Gesundheitsdepartement wäre erwünscht.» Doch, das Rennen sei offen. «Es heisst: Wer als Papst ins Konklave geht, kommt als Kardinal heraus.»
Was die politischen Positionen betrifft, wird Cassis links, aber auch rechts auf Widerstand stossen. Gemäss seinem Smartvote-Profil war er gegen den Atomausstieg per 2029, gegen die CO2-Abgabe auf Benzin. Er ist gegen das Gentech-Moratorium, für ein Freihandelsabkommen mit den USA, aber auch gegen die strikte Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Sparen will er bei Sozialer Wohlfahrt und Landwirtschaft. Mehr ausgeben will er bei Landesverteidigung, Bildung, öffentlichem Verkehr.
Der Tessiner FDP-Ständerat Fabio Abate sagt: «Diesmal hat das Tessin gute Chancen, einen Bundesrat zu bekommen.» Und als Fraktionschef sei Cassis «in einer guten Ausgangslage».
Aber es dauert noch drei Monate bis zur Wahl, und viele prognostizieren Cassis einen heissen Sommer. Er dürfte auch noch einige seiner Mandate zu bereinigen haben. Da ist etwa sein Vizepräsidium der Taiwan-Delegation. Es wird China, das Taiwan als eigene Provinz betrachtet, kaum freuen, wenn der künftige Aussenminister aufseiten der Abtrünnigen steht.