In jedem zweiten Fall, der eine obligatorische Landesverweisung zur Folge hätte, verzichtet die Justiz darauf. Die Politik sieht Handlungsbedarf.
Für die SVP war sie der Stein des Anstosses: die Härtefallklausel. Diese fügte das Parlament bei der Umsetzung der SVP-Ausschaffungs-Initiative ins Gesetz ein. Die Gerichte können demnach «ausnahmsweise» auf die Wegweisung eines straffälligen Ausländers verzichten. Nämlich dann, wenn die Ausweisung für den Betroffenen einen schweren persönlichen Härtefall darstellt und die öffentlichen Interessen an der Ausschaffung nicht überwiegen. Die SVP monierte, die Richter fänden mit der Härtefallklausel weiterhin immer eine Begründung, Straftäter nicht auszuweisen. Sie lancierte die Durchsetzungs-Initiative, die einen Ausweisungsautomatismus in der Verfassung verankern wollte. Doch diese stürzte an der Urne ab. Man werde nun genau beobachten, ob der Ausschaffungs-Initiative tatsächlich Genüge getan werde, kündigte die SVP an.
Am Montag hat das Bundesamt für Statistik (BFS) nun die Zahlen für das Jahr 2017 präsentiert. Demnach wurden 1210 Ausländer für ein Delikt verurteilt, das sie nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes im Oktober 2016 begangen hatten und das gemäss diesem Gesetz eine obligatorische Landesverweisung zur Folge hat. In 46 Prozent der Fälle wurde aber auf eine Landesverweisung verzichtet. In fast der Hälfte der Fälle kam also die Härtefallklausel zur Anwendung.
Die SVP sieht sich durch die Statistik in ihrer Haltung bestärkt. «Die Zahlen sind ein absoluter Skandal», sagt der Zürcher Nationalrat Gregor Rutz. Es sei genau das eingetroffen, was man immer befürchtet habe. «Die Härtefallklausel öffnet Tür und Tor, um Ausschaffungen zu umgehen.» Mit dem vom Parlament beschlossenen Gesetz habe sich offensichtlich überhaupt nichts geändert, so Rutz. Der SVP-Nationalrat kündigt eine parlamentarische Initiative zur Streichung der Härtefallklausel an. «So wie jetzt kann es auf keinen Fall weitergehen», sagt Rutz.
Es war der Ständerat, der bei der Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative die Ausnahmeregelung für Härtefälle einfügte. Nur so könne die Verhältnismässigkeit gewahrt werden, die ebenfalls in der Verfassung verankert sei, wurde argumentiert. Das Umsetzungsgesetz sei aber auch mit der Härtefallklausel «pfefferscharf», sagte unter anderem der Ausserrhoder FDP-Ständerat Andrea Caroni.
Diese Aussage hat für Caroni auch mit Blick auf die Jahreszahlen weiterhin Gültigkeit. «Auf eine Landesverweisung verzichtet wird vor allem bei Bagatellfällen.» Tatsächlich sah die Justiz in rund vier von fünf Fällen, in denen ein Ausländer zu einer Freiheitsstrafe von weniger als sechs Monaten verurteilt wurde, von einer Ausschaffung ab. Bei längeren Freiheitsstrafen kam die Härtefallklausel hingegen lediglich in 11,6 Prozent der Fälle zum Tragen.
Doch auch Caroni sieht Handlungsbedarf. Und zwar bei der Frage, wer die Härtefallklausel anwenden darf. Meist waren es nämlich nicht die Richter, die im vergangenen Jahr auf die Härtefallklausel zurückgriffen, sondern die Staatsanwaltschaften: In 440 Fällen verzichteten diese per Strafbefehlsverfahren auf eine Wegweisung. Demgegenüber stehen nur 119 entsprechende Gerichtsurteile. Gemäss den Empfehlungen der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz (SSK) liegt ein Härtefall vor, wenn der Ausländer über eine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung verfügt, «bloss» zu einer Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten verurteilt worden ist und keine schweren Vorstrafen vorliegen. Indem man solch klare Härtefälle per Strafbefehl erledige, entlaste man die Gerichte, sagt SSK-Präsident Fabien Gasser.
Caroni sähe es lieber, wenn die Staatsanwaltschaften sämtliche Fälle an die Gerichte weiterleiten würden – wie dies in einigen Kantonen schon heute gehandhabt wird. Für Caroni sind die von der SSK aufgestellten Kriterien «eindeutig zu grosszügig». Der FDP-Ständerat hat zudem den Verdacht, dass die Staatsanwaltschaften die Härtefallklausel zuweilen nur anwenden, um den Gerichten Arbeit zu ersparen.
Ähnlich sieht dies der Aargauer FDP-Ständerat Philipp Müller. Mit der gegenwärtigen Praxis bestehe die Gefahr, dass die Absicht des Parlaments verwässert und nicht nur in Ausnahmefällen auf eine Landesverweisung verzichtet wird. Eine Lösung wäre aus Müllers Sicht, dass Straftaten, die unter die Ausschaffungsgesetzgebung fallen und von Ausländern mit Aufenthaltsrecht verübt werden, immer durch ein Gericht beurteilt werden müssen. Müller hat vergangene Woche eine entsprechende Motion eingereicht. Den Vorwurf, die Praxis der Staatsanwaltschaften sei zu lasch, kann Fabien Gasser nicht nachvollziehen. Das zeige sich am Beispiel des Kantons Solothurn. Dort gelangten sämtliche Fälle ans Gericht, die Ausschaffungsquote sei aber deutlich tiefer als beispielsweise in den Kantonen Genf und Waadt, wo die Staatsanwaltschaften die Härtefallklausel fallweise anwenden.