Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ist die Zeit der Familie. Auch fünf az-Redaktoren und -Redaktorinnen haben ein spannendes Familienmitglied getroffen - und mit ihm ein persönliches Gespräch geführt.
Bruno, wie direkt verwandt sind wir eigentlich miteinander? Mein Bürgerort war Niedererlinsbach.
Bruno Vittorio Nünlist: Meiner auch! Mein Grossvater starb 1991 im Pflegeheim Niedererlinsbach.
Bariton Bruno Vittorio Nünlist ist verwandt mit Hobby-Tenor und az-Auslandchef Christian Nünlist. Bruno Nünlist ist der Enkel von Oberst Robert Nünlist, dem legendären Kommandanten der Schweizer Papstgarde von 1957 bis 1972. Bruno Nünlist nahm Gesangsstunden bei Maria Stader und Elisabeth Schwarzkopf. Zurzeit singt er an der Oper Zürich.
Ihr seid also auch Solothurner?
Ja, genau. Von der katholischen Linie.
Ich auch! Der Name Nünlist ist seit 1201 in der Schweiz verbürgt. Irgendwann später kreuzten sich unsere Stammbäume wohl ...
Wahrscheinlich müssten wir gar nicht so weit zurückgehen.
In Militärkreisen werde ich sehr oft auf deinen Grossvater angesprochen, auf Oberst Robert Nünlist. Wie hast du als Kind den Kommandanten der Papstgarde erlebt?
Wir lebten zur Hälfte im Vatikan, in einer herrschaftlichen Wohnung. Das war riesig, wir konnten mit dem Dreirad durch die Gänge rasen.
Hatte dein Grossvater denn überhaupt Zeit für dich?
Ja, die Familie ging für ihn über alles. Nach der Pensionierung wohnte er in Kappel bei Olten direkt neben uns.
Was hat er dir vermittelt?
Die Grundwerte: Ehrlich und gradlinig sein. Und das Denken in geschichtlichen Zusammenhängen.
War dir als Kind bewusst, wie berühmt dein Grossvater war?
Nein. In der Schule mussten wir jeweils von den Sommerferien erzählen. Ich sagte dann, wir seien im Vatikan beim Papst gewesen. Erst später realisierte ich, dass das offensichtlich etwas Spezielles war. Für mich war das aber völlig normal, ich wuchs in kindlicher Unschuld da hinein.
1959 gab es ein Attentat auf deinen Grossvater. Erzählte er dir davon?
Ja. Der Attentäter war ein ehemaliger Gardist. Grossvater hatte herausgefunden, dass der Gardist Epilepsie hatte, dies aber verschwiegen hatte. Grossvater dachte: Was mache ich nun, wenn dieser Gardist vor dem Papstgemach Wache schiebt und einen Anfall hat – der Papst wäre nicht geschützt. Grossvater entliess ihn, und der Gardist kam in Kreise, die gegen Grossvater waren.
Wegen seiner Wahl 1957?
Genau. Sein Vorgänger Pfyffer von Altishofen hatte dem Walliser Ruppen den Job versprochen – Papst Pius XII. hatte dann aber Grossvater bevorzugt, weil er einen Militärprofi als Kommandanten haben wollte. Das war der Hintergrund des Attentats.
Also war es eine Verschwörung?
Ja, davon bin ich überzeugt. Mein Vater rettete dem Grossvater damals das Leben. Er war 19 Jahre alt und kämpfte im Treppenhaus mit dem Attentäter auf Leben und Tod. Der Grossvater hatte drei Schüsse im Körper und war klinisch tot. Vater hörte nach dem Attentat, wie jemand in den Hinterhof hinausrief: «Abbiamo vinto»: «Wir haben gewonnen.» Das war eindeutig nicht die Tat eines Einzelgängers, wie es der Vatikan später sagte.
Dein Grossvater traf viele Staats- und Regierungschefs, darunter Präsident Charles de Gaulle. Weisst du etwas über diese Treffen?
Nein, er war immer sehr zurückhaltend. Er war ein Geheimnisträger. Er sagte lieber nichts als etwas Falsches. Er wusste viel, aber hatte Angst, darüber zu sprechen, und war unglaublich vorsichtig, besonders nach dem Attentat. Die Staatsbesuche sind aber dokumentiert, und er hat viele höchste Orden ausländischer Staaten erhalten.
Worauf war dein Grossvater besonders stolz?
Was nirgends erwähnt wird: Ohne meinen Grossvater wäre die Papstgarde 1970 abgeschafft worden. Damals wurden die anderen drei Garden abgeschafft, nur die Schweizergarde nicht.
Wie gelang das?
Dank seiner Disziplin. Papst Paul VI. sagte damals vor seiner Reise nach Jerusalem: Ich gehe als Friedenspapst, ich lasse meine Armeen zu Hause, sie sollen stattdessen im Vatikan für mich beten. Die Palatingarde, die Nobelgarde und das Gendarmeriekorps schickten ein Sicherheitsdetachement nach Israel. Und der Papst erfuhr davon. Die Schweizer jedoch hielten sich daran und stellten im Vatikan eine Gebetswache auf. Die Schweizergarde blieb bestehen. Diese Leistung wurde meinem Grossvater nie verdankt. Dabei hätte es ohne ihn 2005 gar kein 500-Jahr-Jubiläum der Schweizergarde gegeben.
Spannend! Du hattest ja nicht nur die übergrossen Fussstapfen deines Grossvaters vor dir. Dein Vater Rolf war ein über die Landesgrenzen hinaus bekannter Bass. Weckte er deine Liebe zur klassischen Musik?
Natürlich, ja. Aber eigentlich wollte ich Autodesigner werden. Musik war bei mir früher zweite oder dritte Wahl.
Auf Youtube gibt es ein Video, auf dem dein Vater und du vor kurzem zusammen an einer Hochzeit singt. Habt ihr oft zusammen musiziert?
Nein, das war ein ganz seltener Moment und sehr bewegend. Wir sangen das Vater-Sohn-Duett aus der Oper «I Puritani». Vater ist ein richtiger Bass, er hat das tiefe C auf CD aufgenommen, so tief runter komme ich nicht.
Hat er die Türen geöffnet für Gesangsstunden bei Maria Stader oder Elizabeth Schwarzkopf?
Nein, das habe ich selbst eingefädelt.
Wie hast du als einer der letzten Schüler von Maria Stader die grandiose, aber nur 1,44 Meter grosse Sopranistin erlebt, die in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre?
Für mich war sie wie eine Grossmutter. Sie machte einen grossen Unterschied zwischen der Stader, wie sie nach aussen erscheinen wollte, und Maria. In der Öffentlichkeit war sie oft zickig, sie wurde wegen ihrer Grösse auch mit 40 Jahren noch «Püppchen» genannt. Ich erlebte sie als herzliche, achtsame, liebenswerte Person.
Von Maria Stader stammt auch der Spruch «Mit den Augen hören, mit den Ohren sehen», der Untertitel deines Buches «Zen in der Kunst des Singens?». Wie soll das gehen?
Ich sagte ihr, dass das Zenbuddhismus sei. Da erwiderte sie energisch: «Quatsch Zen! Das ist Singen lernen!»
Anfang Jahr hast du bei der TV-Castingshow «Die grössten Talente» mitgemacht, bist aber ausgeschieden. Hat das wehgetan?
Nein, mich hat einfach aufgeregt, dass es von Anfang an ein abgekartetes Spiel war, wer gewinnen würde. Mir wurde geraten, «Time to Say Goodbye» zu singen.
Das ist aber für einen Tenor ...
Als Bariton ein hohes G zu singen, geht nicht. Von meiner Verdi-Arie war die Jury begeistert, nur DJ Bobo hielt fest: falsche Stückwahl. Es zählte ganz klar nicht die dargebotene Leistung.
Gab es unter Sängerkollegen Spott?
Es wurde gar nicht ausgestrahlt, ansonsten hätte es sicher Spott gegeben.
Wir haben 2007 zusammen das Brahms-Requiem aufgeführt, du als Solist, ich im Chor. Du sagtest mir damals, das sei dein Lieblingswerk.
Das stimmt, es fasziniert mich auch vom Inhalt er. Als Bariton singe ich da: «Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben. Sie sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird.» Das passt auch gut zur heutigen Wirtschaftskrise.
Im Juni singt mein Chor anlässlich des 60.Thronjubiläums der Queen auf Einladung des britischen Konsulats Krönungsmusik unter der Leitung von Howard Griffiths...
Ehrlich? (lacht) Das ist toll! Super!
Gefällt dir die Musik von Purcell, Elgar oder Stanford?
Ich liebe englische Oldtimer, da hörte ich auf der Fahrt gerne Elgars «Pomp and Circumstances». Auch sein Cello-Konzert ist sensationell. Oder Händels «Coronation Anthems».
Ha! Daraus singen wir im Juni das erste Stück: «Zadoc the Priest».
Als Mary und Frederik von Dänemark heirateten, erklang das beim Brauteinzug. Da bekam ich Gänsehaut!
Ich erwähne das, weil du vor zehn Jahren beim 50.Jubilee einen ganz speziellen Auftritt hattest ...
Genau, 2002 nahm ich mit meinem Bentley Jahrgang 1948 an der Queen’s Parade im Schlosshof Windsor teil. Ich war der einzige Schweizer, der an der Queen vorbeidefilierte. Ich schenkte ihr eine CD mit Dowland-Liedern, die ich gesungen hatte. Sie schickte mir ein nettes Dankesschreiben.
Du hast nicht nur die Queen, sondern auch Päpste getroffen.
Bei einer Privataudienz 1966 war ich neun Monate alt, und auf der offiziellen Fotografie sieht man, wie ich nach dem Edelstein-Kreuz des Papstes greife, wie Paul VI. sein Kreuz schützt und alle Familienmitglieder lachen. Johannes Paul II. traf ich drei Mal, 1986 in Luzern, 1989 und 1993 in Rom. Ich begreife die Verehrung für Johannes Paul II. Er hatte ein unglaubliches Charisma und eine tiefe Spiritualität.
Kürzlich bist du vom Chef des portugiesischen Königshauses zum Ritter geschlagen worden. Wie muss man dich heute korrekt ansprechen? Ritter Bruno Vittorio?
(lacht) Dazu habe ich mir bisher noch gar keine Gedanken gemacht. Aber Ritter Bruno Vittorio tönt gut, das ist lustig!