Gesundheit
Jugendliche am Anschlag: Überparteiliche Allianz fordert mehr Mittel für psychologische Beratungsstellen

Trotz der Aufhebung der Coronamassnahmen: Die Telefonhilfe 147 von Pro Juventute verzeichnet steigende Zahlen bei den Beratungen zu Ängsten, Suizidgedanken und anderen psychischen Problemen. Viele Stellen sind überlastet. Nun machen Politiker aller Couleur Druck auf den Bundesrat.

Chiara Stäheli
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Pro Tag melden sich bei Pro Juventute durchschnittlich sieben Jugendliche mit Suizidgedanken.

Pro Tag melden sich bei Pro Juventute durchschnittlich sieben Jugendliche mit Suizidgedanken.

Vetta

«Wir befinden uns in einer Notsituation», sagt SP-Nationalrätin Sandra Locher Benguerel, «deshalb müssen wir nun jedes Mittel nutzen, um die Angebote zur Unterstützung von psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen zu stärken.» Es brauche nun Sofortmassnahmen auf allen Ebenen – in erster Linie sollen «rasch, niederschwellig und unkompliziert» psychosoziale Beratungsangebote für Jugendliche unterstützt und ausgebaut werden, so die Bündner Lehrerin.

Unterstützung erhalten soll beispielsweise die Kinder- und Jugendberatung von Pro Juventute. Unter der Nummer 147 erreichen Jugendliche Fachleute, mit denen sie über ihre psychischen Probleme sprechen können. Doch das Angebot stösst an seine Grenzen, wie Lulzana Musliu von Pro Juventute sagt: «Die starke psychische Belastung der jungen Generation führt dazu, dass unser Beratungsangebot stark gefragt ist. Unsere Beraterinnen leisten Extraschichten.» Zudem komme es vor, dass Anrufe nicht durchgestellt werden können, weil alle Fachpersonen besetzt sind.

Pro Tag melden sich sieben Jugendliche mit Suizidgedanken

Gerade im Bereich der Suizidprävention leiste Pro Juventute mit der Beratungsstelle 147 einen wichtigen Beitrag. Pro Tag melden sich durchschnittlich sieben Jugendliche mit Suizidgedanken, gesamthaft steht die Anlaufstelle täglich mit rund 800 Jugendlichen in Kontakt. «Doch um dieses Angebot weiterhin aufrechterhalten und angesichts der Notwendigkeit auch ausbauen zu können, brauchen wir öffentliche Gelder», so Musliu.

Dafür setzt sich SP-Nationalrätin Locher seit Jahren ein. In ihrem neuesten Vorstoss will sie vom Bundesrat wissen, ob er bereit ist, Massnahmen zu ergreifen, um die Angebote zur sogenannten Sekundärprävention zu stärken und bekannt zu machen. Dazu zählen Anlauf- und Beratungsstellen, die den Psychiatrie- und Psychotherapieangeboten vorgelagert sind. Laut Locher sind solche vor allem dann wichtig, wenn es darum geht, Probleme frühzeitig zu erkennen und die langen Wartezeiten zu überbrücken, bis ein Therapieplatz zur psychiatrischen oder psychotherapeutischen Versorgung frei wird.

Weshalb leiden immer mehr Jugendliche unter psychischen Problemen?

Lulzana Musliu von Pro Juventute sieht in der «Überlappung mehrerer Krisen» die Ursache für den steigenden Anteil psychisch belasteter Jugendlicher. «Der Krieg, die eben erst offiziell beendete Pandemie, die drohende Inflation und der Klimawandel ergeben zusammen eine Multikrise, die Kinder und Jugendliche in ihrer psychischen Entwicklung herausfordert», so Musliu. Von solchen Krisen sei die junge Generation besonders stark betroffen. Ähnlich sieht das SP-Nationalrätin Sandra Locher: «Was vielen Jugendlichen fehlt, sind Sicherheit und Stabilität.»

Dagmar Pauli, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, beobachtet zudem eine gesellschaftliche Entwicklung, die zunehmend Druck auf das Individuum ausübt, in immer kürzerer Zeit mehr zu leisten. Auch übermässiger Konsum von sozialen Medien kann laut Pauli – vor allem für vulnerable Jugendliche – die Entwicklung von psychischen Störungen begünstigen. «Und schliesslich wissen viele Kinder und Jugendliche nicht, wie sie mit Problemen umgehen sollen, und greifen in der Folge zu schädlichen Bewältigungsstrategien wie Selbstverletzung, Essensverweigerung oder Suizid», so Pauli.

«Politisch und faktisch unbestrittene Notsituation»

Mitunterzeichnet haben die Interpellation von Locher 18 Parlamentarierinnen und Parlamentarier – und zwar aus allen Parteien. Auch der Bundesrat habe seine Pflicht erkannt und erste Massnahmen ergriffen, so Locher. «Es braucht allerdings noch mehr. Ich hoffe deshalb, dass der Bundesrat diese politisch und faktisch unbestrittene Notsituation erkennt und zusammen mit den Kantonen den Versorgungsengpass angeht.»

Dass es dafür höchste Zeit ist, bestätigt auch Dagmar Pauli, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Zürich: «Anmeldungen wegen psychischer Not bei Jugendlichen stiegen schon vor Corona Jahr für Jahr. Deshalb ist ein Ausbau niederschwellig zugänglicher Angebote unabdingbar.» So könnten gemäss Pauli die «zu langen Wartezeiten» für einen ambulanten Behandlungsplatz überbrückt werden. Die Chefärztin und Stiftungsrätin von Pro Juventute sieht zudem Potenzial bei den bereits bestehenden Angeboten: «Wenn genug Mittel und Personal vorhanden sind, könnte man beispielsweise die Telefonhilfe 147 durch persönliche Beratungsgespräche ergänzen.»