Coronavirus
Für Kinder mit Lernschwierigkeiten verschärfen sich die Nachteile: Helfen digitale Kleinklassen?

Das Coronavirus krempelt den Schulalltag um. Das Aus für den Präsenzunterricht stellt für Kinder mit heilpädagogischer Unterstützung eine besondere Herausforderung dar. Ein Zürcher Kantonsrat bringt nun eine neue Idee ins Spiel: digitale Kleinklassen.

Kari Kälin
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Für manche Schüler ist eins-zu-eins-Betreuung zentral für den Lernerfolg.

Für manche Schüler ist eins-zu-eins-Betreuung zentral für den Lernerfolg.

CH Media

Die Kinder haben Mühe beim Lesen und/oder Rechnen, können sich kaum konzentrieren, und sind vielleicht auffällig im sozial-emotionalen Bereich: Gut 22'000 Kinder erhalten eine sogenannt «verstärkte sonderpädagogische Massnahme», sind aber ganz normal in eine Regelklasse integriert. Das bedeutet zum Beispiel: Während einigen Lektionen helfen ihnen Heilpädagogen direkt im Klassenzimmer.

Rund 17'000 Kinder besuchen sodann eine Sonderschule. Die Bandbreite ist gross: Sie reicht vom mehrfach körperlich und geistig behinderten Kind bis zum kognitiv normal entwickelten Schüler, der aber wegen seiner Verhaltensauffälligkeit in einer Regelklasse eine Zumutung wäre. Ausländerkinder sind in den Sonderschulen übervertreten. Generell zeigen Studien, dass in erster Linie Kinder aus unterprivilegierten Schichten heilpädagogische Unterstützung erhalten.

Die Schere könnte sich öffnen

Das Coronavirus stellt auch den Schulalltag auf den Kopf. Mindestens bis zum 19. April findet in hiesigen Klassenzimmern kein Unterricht statt. Das Lernen aus der Distanz stellt trotz Digitalisierung eine Herausforderung dar – für Schüler, Lehrer und Eltern. Für Kinder, die auf eine heilpädagogische Begleitung angewiesen sind, «verschärfen sich die Nachteile», sagt Riccardo Bonfranchi. Der Buchautor und ehemalige Dozent für Psychologie und Heilpädagogik befürchtet, dass sich die Schere zwischen den guten und schwachen Schülern weiter öffnet.

Die Beziehung zur Lehrperson und deren physische Anwesenheit ist zentral für den Lernerfolg. Manche Schüler erfüllen eine Aufgabe bloss dem Lehrer zuliebe.

Bonfranchi weiss, wovon er spricht. Er unterrichtete früher Kinder in einer Kleinklasse, «Papierphobiker», wie er sagt.

Bonfranchi ortet im Fernunterricht für Kinder mit Lernschwierigkeiten besondere Stolpersteine. «Häufig stammen sie aus der Unterschicht und erhalten deshalb kaum Unterstützung von den Eltern», sagt er. Um den Schulstoff digital zu bewältigen, müsse man aber fliessend lesen und schreiben können. Es brauche deshalb einfach formulierte Arbeitsblätter. Auch das Einrichten der Computereinstellungen könne sich als Hürde erweisen. «Ein Kind mit Lernschwierigkeiten ertrinkt in den schriftlichen Anweisungen.» Da könnten auch Telefonanrufe und Videokonferenzen nicht genügend Abhilfe schaffen. Bonfranchi würde es begrüssen, wenn die Kinder mit heilpädagogischer Unterstützung für einige Stunden pro Woche eine Lehrperson treffen könnten, sei es in der Schule oder beim Schüler daheim – selbstverständlich unter Einhaltung der Hygiene- und der Abstandsregeln.

Derweil zerbrechen sich auch Heilpädagogen den Kopf, wie sie dafür sorgen können, dass der Zappelphilipp seine Aufgaben innert nützlicher Frist erledigt. Manche warten, wie Recherchen zeigen, noch immer auf konkrete Anweisungen – und helfen sich selber, indem sie etwa via der Kommunikationsplattform «Teams» Kontakt zu ihren Klienten herstellen oder über das gute alte Telefon.

Nur eine Ansprechperson

Yasmine Bourgeois unterrichtet in der Stadt Zürich Schüler von der 4. bis 6. Primarklasse. «Die Integration von Kindern mit heilpädagogischer Unterstützung ist schon im normalen Schulbetrieb anspruchsvoll», sagt sie. Der Fernunterricht erschwere dies zusätzlich. Bei Bourgeois haben sich Eltern aus dem Bekanntenkreis gemeldet, die mit der Betreuung ihrer Kinder überfordert sind. Das überrascht nicht. Schliesslich sind die wenigsten Mütter und Väter, die jetzt als Hilfslehrer wirken, geschulte Heilpädagogen.

Bloss: Wie kann man in Zeiten einer Pandemie Kindern mit verstärkten sonderpädagogischen Massnahmen gerecht werden? Yasmine Bourgeois Ehemann Marc Bourgeois, FDP-Kantonsrat und Mitglied der Bildungskommission, hat Vorschläge erarbeitet. Die Koordination zwischen den Bezugspersonen der Schüler sei jetzt erschwert, sagt er – und die Arbeitslast der Kinder sei auf Distanz schwierig abschätzbar. Fernunterricht bedinge auch andere Organisationsformen. «Die Kinder sollen deshalb vorerst nur eine Ansprechperson haben», sagt Bourgeois. Bei erheblich benachteiligten Kindern könnten dies statt der Klassenlehrer etwa die Heilpädagogen sein. Diese könnten sich dann intensiv um diese Kinder kümmern. «Mit solch digitalen Kleinklassen verringern sich die Schnittstellen», sagt Bourgeois. Er schlägt zudem vor, auf Kernfächer wie Mathematik und Deutsch zu fokussieren. Bourgeois hat seine Vorschläge der Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner unterbreitet.

Das Zürcher Volksschulamt äussert sich nur indirekt zu Bourgeois Vorschlägen. «Die Lehrpersonen und die schulischen Heilpädagogen wissen am besten, welche Betreuungsform für welches Kind am sinnvollsten ist», sagt Amtschefin Marion Völger. Unterstützung der Idee mit den digitalen Kleinklassen erhält Bourgeois dafür von wissenschaftlicher Seite.

Wenn dadurch die Kommunikation und die Beziehung zu den Schülern gestärkt werden kann, ist das eine gute Sache

, sagte Urs Moser, Professor für Bildungsevaluation an der Universität Zürich, am Samstag in einem Interview mit der NZZ. Dies gelte vor allem für Kinder, die von zu Hause wenig Unterstützung erhielten.

Der Berufsverband gibt sich optimistisch

Zuversicht in pädagogischen Sonderzeiten verströmt auch Katharina Beglinger, Co-Präsidentin des Berufsverbandes Heil- und Sonderpädagogik. Die Herausforderung, die Kinder mit besonderem Bildungsbedarf im Fernunterricht zu unterstützen, sei gross. Sie ist aber überzeugt, dass die Heilpädagogen auch alles geben, um die Kinder zu unterstützen. Wichtig sei es, die Eltern einzubinden und bei Bedarf dafür zu sorgen, dass die technischen Voraussetzungen für den Fernunterricht gegeben seien. Beglinger rät, kreative Tätigkeiten wie Singen und Musik zu pflegen – und die Schulstoffe so aufzubereiten, dass die Kinder eine Verbindung zu ihrer Lebenswelt herstellen können.