Urnengänge
Fünfjährige Durstrecke: Volksinitiativen haben derzeit keine Chancen

Nein, nein und nochmals nein: In dieser Legislatur sind alle Initiativen an der Urne gescheitert. Und es wurden weniger Vorlagen lanciert. Ist das Zeitalter der Initiativenflut vorbei?

Sven Altermatt
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Fünfräppler auf dem Bundesplatz: Die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen wurde 2013 mit viel Show eingereicht. An der Urne scheiterte die Vorlage deutlich.

Fünfräppler auf dem Bundesplatz: Die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen wurde 2013 mit viel Show eingereicht. An der Urne scheiterte die Vorlage deutlich.

Keystone

Manche sprachen von einer Initiativenflut, andere gar von einem «Missbrauch der Volksrechte». Doch ausgerechnet die 50. Legislatur, die mit den Wahlen am 20. Oktober enden wird, hinterlässt Zweifel an solchen Zuschreibungen. Über fünf Jahre ist es unterdessen her, seit die Schweizer Stimmbürger eine Volksinitiative angenommen haben.

In dieser Legislatur fielen nicht nur sämtliche Initiativen an der Urne durch – erstmals seit den 1990er-Jahren. Es wurden auch weniger Volksbegehren lanciert als in den Jahren davor. Und schliesslich galt das Jahr 2017 als historische Zäsur: Das Volk musste über keine einzige Initiative abstimmen. Seit 34 Jahren war dies nicht mehr vorgekommen. Ist das Zeitalter der Initiativen vorbei? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wie präsentiert sich die Initativenbilanz dieser Legislatur?

Desaströs. Von den Wahlen im Oktober abgesehen, wird das Schweizer Stimmvolk in dieser Legislatur nicht mehr an die Urne gerufen. Deshalb lässt sich bereits jetzt Bilanz ziehen. In den Jahren 2016 bis 2019 kamen 16 Volksinitiativen an die Urne – sie wurden allesamt abgelehnt.

Eine solche Flaute gab es letztmals in der 45. Legislatur von 1995 bis 1999. In den vier dazwischenliegenden Legislaturen wurde immer mindestens eine Initiative angenommen. Die Zeitspanne zwischen 2004 und 2014 wird zuweilen sogar als «Jahrzehnt der Volksinitiativen» bezeichnet; neun Vorlagen kamen an der Urne durch.

Welche Initiative war Top – und welche Flop?

Am deutlichsten abgelehnt wurde in der aktuellen Legislatur am 5. Juni 2016 die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen. 76,9 Prozent stimmten Nein. In keinem einzigen Kanton fand die Vorlage eine Mehrheit. Das Initiativkomitee bestand aus parteipolitisch meist unabhängigen Personen.

Äusserst knapp scheiterte die Heiratsstrafe-Initiative der CVP. 50,8 Prozent der Stimmbürger legten am 28. Februar 2016 ein Nein ein. Später wurde bekannt, dass der Bund das Ausmass der steuerlichen Heiratsstrafe völlig falsch dargestellt hatte. Im April dieses Jahres annullierte das Bundesgericht deshalb die Abstimmung – ein seit der Gründung des Bundesstaates einmaliges Vorgang. Ob es zu einer Wiederholung des Urnengangs kommt, ist derzeit noch ungewiss.

Wann kam letztmals eine Volksinitiative an der Urne durch?

Am 18. Mai 2014 sagten 63,5 Prozent der Stimmberechtigten und die Mehrheit der Stände Ja zur Initiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen». Dahinter stand die Organisation Marche Blanche. Seither gelangten insgesamt 25 Initiativen zur Abstimmung, die alle durchfielen. Die Nein-Durststrecke dauert demnach seit über 1800 Tagen an.

Wie ist das im historischen Kontext einzuordnen?

Wer will, kann in der zuletzt tiefen Erfolgsquote eine Rückkehr zu alten Verhältnissen erkennen. Die Volksinitiative ist ein wichtiges Instrument der direkten Demokratie. Seit 1891 ist sie in der Bundesverfassung verankert. Kommen innert 18 Monate 100'000 Unterschriften zusammen, wird eine Initiative dem Volk vorgelegt. Doch bis in die 1970er-Jahre wurde das Instrument wenig genutzt. Dann stieg die Zahl der Initiativen deutlich an, an der Urne blieben die Erfolge allerdings aus. Zwischen 1949 und 1982 wurde keine einzige Vorlage angenommen.

Erst im neuen Jahrtausend hat sich der Anteil erfolgreichen Initiativen markant erhöht. Seit 1891 konnten Volk und Stände insgesamt über 216 Initiativen abstimmen. Gut ein Drittel dieser Abstimmungen fand seit 2000 statt. Noch eindrücklicher ist die Erfolgsquote: Insgesamt wurden 22 Initiativen angenommen, wobei seit der Jahrtausendwende deren 10 durchkamen.

Wie viele Initiativen wurden lanciert?

Immer wieder werden die Parteien dafür kritisiert, dass sie die Volksinitiative als Vehikel im Wahlkampf nutzen – und so das als Ventil für politische Minderheiten gedachte Instrument ad absurdum führen. Tatsächlich wurden in der Vergangenheit vor und in Wahljahren deutlich mehr Initiativen lanciert. Aktuell gilt das jedoch nur bedingt: Im Jahr 2018 wurden acht Volksbegehren lanciert; zwei weniger als 2017 und zwei mehr als 2016. In den Jahren vor den Wahljahren 2015 und 2011 wurden 12 respektive 15 Initiativen lanciert. Ebenfalls acht Initiativen wurden im laufenden Jahr bislang ins Rennen geschickt. Im Wahljahr 2011 gingen rekordverdächtige 23 Initiativen an den Start, 2015 bloss deren sechs.

Die beiden Zwischenjahre 2016 und 2017 liegen mit einem Schnitt von acht lancierten Initiativen zwar im langjährigen Mittel, aber deutlich unter jenem der Jahre 2009 bis 2014 mit jährlich 13 Initiativen. Ausserordentlich stabil ist übrigens der Anteil der Initiativen, die zustande gekommen sind: Über die Jahre kamen jeweils bei rund zwei Dritteln der lancierten Vorlagen die erforderlichen Unterschriften zusammen.

Kann also von einer Initiativenflut keine Rede mehr sein?

Die Klagen sind eindringlich. Politiker warnen regelmässig vor einer Initativenflut, einige befürchten sogar einen Kollaps des politischen Systems. In der aktuellen Legislatur forderte etwa die BDP höhere Unterschriftenhürden. Eine entsprechende parlamentarische Initiative scheiterte. Politikwissenschaftler sehen das vermeintliche Problem seit je entspannter. Sie verweisen darauf, dass die Volksinitiative einer gewissen Fluktuation unterworfen sei. Das Instrument werde mal mehr und mal weniger genutzt.

In jüngster Zeit habe die vermeintliche Initiativenflut eher abgenommen, konstatieren Forscher der Uni Bern im aktuellen «Jahrbuch der direkten Demokratie». Und obwohl die Initiative als «Wahlkampfmaschine» genutzt werde, diene sie weiterhin als Ventil für Minderheiten. Die beiden Funktionen hielten sich in etwa die Waage.

Der Nationalrat versenkte die BDP-Forderungen im Jahr 2017 mit 172 zu 8 Stimmen deutlich. Für den Politikwissenschaftler Marc Bühlmann von Année Politique Suisse verdeutlichte das Abstimmungsresultat, «dass die periodisch auftretende Diskussion über eine sogenannte Initiativenflut und die damit verbundenen Vorstösse für höhere Hürden wohl wieder für ein paar Jahre versiegen wird».