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Ein Gründungsmitglied des Islamischen Zentralrats Schweiz steht vor dem Bundesstrafgericht wegen Terrorpropaganda. Inzwischen hat er sich von der Szene distanziert und spricht selbstkritisch über seine dunkle Phase.
Er hat seine Fingernägel rot lackiert und trägt sieben Piercings. Damit lebt er seine weibliche Seite aus, wie er sagt. K. C. ist 35 Jahre alt und wohnt in einer Gemeinde der Nordwestschweiz.
Zwischen 20 und 32 sah er ganz anders aus. Damals trug er einen fusseligen Bart und nannte sich Abdullah. Er war Islamist. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, 2014 und 2015 über Facebook und Whatsapp Propaganda für die Terrororganisation IS verbreitet zu haben. Deshalb steht er nun vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona.
Für die Bundesanwaltschaft ist es ein Fall von vielen. 31 Strafverfahren sind bei der Anklagebehörde im Bereich Terrorismus hängig. 2015, als der Terror mitten in Europa zuschlug, eröffnete sie zahlreiche Strafverfahren. Viele von ihnen blieben seither liegen – wie der Fall Abdullah. Für die Bundesanwaltschaft ist die Terrorbekämpfung wieder in den Hintergrund gerückt.
Dieser Fall zeigt exemplarisch, wie die Bundesanwaltschaft in Strafbefehlsverfahren teilweise ungenau und langsam arbeitet. Dabei wäre bei einem Strafbefehl eigentlich besondere Sorgfalt nötig, da er ungeprüft zum Urteil wird, falls er nicht angefochten wird.
Zudem zeigt der Fall, wie der Islamismus eine Phase von jungen Männern aus guter Stube sein kann, die sich auf der Suche nach dem Sinn des Lebens verirrt haben.
K. C. tritt unterschiedlich auf. In der Gerichtsverhandlung in Bellinzona, die von Richterin Miriam Forni (SP) zackig geführt wird, wirkt er trotzig. Es geht um technische und juristische Fragen. Als er im Schlusswort die Gelegenheit erhält, sich zu erklären, schweigt er.
Anders gibt er sich bei einem Treffen mit dieser Zeitung in Basel. Offen spricht er über die Irrungen seines Lebens. Er erklärt sich sogar bereit, sich fotografieren zu lassen. Denn er möchte etwas ändern in seinem Leben. Er möchte sein wahres Gesicht zeigen.
Enge Weltanschauungen: Anthroposophie und Islamismus
Seine Geschichte beginnt er mit seiner Kindheit. Seine Mutter erzog ihn anthroposophisch. Die Anthroposophie, die esoterische Lehre von Rudolf Steiner, sei eine enge Weltanschauung – wie der Islamismus, meint er:
Ich habe schon als Kind immer nur schwarz und weiss gesehen. Eine Mittellinie zu finden, fiel mir schwer. Ich dachte, den anderen gehe es nicht so gut wie mir, weil sie nicht anthroposophisch sind. Wir Steinerschüler haben auf die Kinder der Staatsschule herabgeschaut.
Schon früh merkte er allerdings, dass er auch in anderer Hinsicht anders war. Niemand durfte davon erfahren:
In der Pubertät habe ich eine weibliche Seite in mir entdeckt. Mir gefiel es, Frauenkleider zu tragen. Das war aber ein Gesicht von mir, das ich verbergen wollte. Mit 18 wurde ich dann von einer Nachbarin erwischt, als ich meine Frauenkleider in einem Park versteckt hatte. Sie erzählte es meinen Eltern. Ich entwickelte Suizidgedanken. Sie schickten mich zu einer Therapeutin, die mich jedoch nicht verstand.
Mit 20 entdeckte er den Islamismus. Er lernte einen Iraker kennen, der ihn in die König-Faysal-Moschee in Basel mitnahm:
Man kann nicht sagen, dass die ganze König-Faysal-Moschee radikal ist. Aber es gibt gewisse Ecken, in denen sich Leute mit radikalen Ansichten treffen. Zu diesen fühlte ich mich hingezogen. Es war der Reiz, dass etwas passiert, dass Bewegung in meinem Leben entstehen könnte.
In der Moschee knüpfte er Kontakte, die ihn zu Nicolas Blancho führten, dem späteren Präsidenten des Islamischen Zentralrats Schweiz (IZRS). K. C. gehörte zum innersten Zirkel:
2009 war ich bei der Gründung des IZRS in einer Privatwohnung in Aarau dabei. Ich wurde zum Minister für Infostände ernannt. Das klingt nach mehr, als es war. Ich hätte die Standaktionen koordinieren sollen. Ich war aber nicht der Typ, der auf Leute zugeht. Nach einem halben Jahr habe ich das Amt abgegeben.
Selber würde er sich nicht als radikal einstufen. Er habe mit radikalen Aussagen bewusst provoziert:
Es war wie ein Spiel. Ich postete etwas online und es entstand eine riesige Aufregung. Das hatte einen Reiz für mich.
Mit seinen Online-Aktivitäten geriet er auf den Radar des Nachrichtendiensts des Bundes. In einem Amtsbericht schrieb dieser 2015 über ihn:
Im Gespräch pflegt er eine ähnliche Wortwahl wie bekannte Exponenten des IZRS. Einerseits verurteilt er die Gräueltaten in Syrien und im Irak und auf der anderen Seite äussert er sich dahingehend, dass die Muslime ein Recht auf Verteidigung hätten.
In einem privaten Facebook-Chat bejubelte K. C. 2015 die Terroranschläge in Frankreich. Er sagt, damit habe er seinen Chatpartner nur provozieren wollen. Dieser verbreitete die Nachricht weiter. So gelangte sie zur «Sonntagszeitung» und wurde der Polizei bekannt. Diese machte darauf bei ihm eine Hausdurchsuchung und fand 800 Gramm roten Phosphor, 300 Milliliter Ethanol, einen Liter Aceton und 200 Gramm Feinkristallzucker – legal erhältliche Ausgangsstoffe für Bomben.
In einer Einvernahme durch die Bundeskriminalpolizei sagte K. C.: «Ganz ehrlich, wenn ich eine Bombe bauen wollte, hätte ich eine gebaut.» Er habe in einem «Spiegel»-Artikel eine Anleitung gefunden und mit den Stoffen im Wald experimentiert. Das seien aber nur Chemiebaukastenexperimente gewesen. Zu seiner Ideologie sagte er in einer Einvernahme: «Wenn der Sinn des Kalifats darin besteht, Leute abzuschlachten, bin ich dagegen. Wenn er darin besteht, einen Islamischen Staat zu errichten, bin ich dafür.»
Heute sagt er dazu: «Ich könnte kotzen, wenn ich meine Aussagen lese.» Den IS bezeichnet er mittlerweile als «gottlosen Staat, der auf den Müllhaufen der Geschichte gehört».
2017 erliess die Bundesanwaltschaft einen Strafbefehl, in dem sie ihm eine lange Reihe von Vorwürfen machte. Er erhob Einsprache, worauf die Staatsanwältin die meisten Vorwürfe fallen liess. Der Facebook-Eintrag ist nämlich nicht strafbar, weil er aus einem privaten Chat stammt. Und Experimente mit Phosphor sind ebenfalls nicht verboten. Zwei Jahre verstrichen.
2019 erliess die Bundesanwaltschaft schliesslich einen neuen Strafbefehl, in dem sie nur noch Bilder und ein Video anklagte, die sie auf seinem iPhone sichergestellt hatte. Ob diese strafbar sind, ist fraglich. Das Video hat er verschickt, bevor das IS-Gesetz 2015 in Kraft getreten ist. Die Bilder wurden von Whatsapp automatisch gespeichert, nachdem er sie in Gruppenchats erhalten hatte. Die Richterin wird in der Urteilsverkündung am Freitag zu klären haben, was Besitz von Gewaltdarstellungen im Onlinezeitalter bedeutet.
Im Schlusswort der Verhandlung, auf das K. C. verzichtet hat, hätte er sagen können, was er im Gespräch mit dieser Zeitung formuliert hat:
Ich war auf der Suche nach einem sündenfreien Leben. Aber ich lebte meine Sünde, meine weibliche Seite, im Geheimen weiter. Ich spürte immer eine Blockade in mir – wie ein Ventil, das verstopft ist. Das ist das Problem des Islams: Wenn man seine Sünden im Verstecken lebt und dafür um Vergebung betet, ist es okay.
Erst seit kurzer Zeit zeigt er sich mit seinen roten Fingernägeln auf der Strasse und bei der Arbeit. Und siehe da: Die Leute würden es akzeptieren. Ein riesiger Ballast sei von ihm gefallen.
Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat 130 Datensätze des Nachrichtendiensts des Bundes analysiert: Es sind Persönlichkeitsprofile von Islamisten, die unter Beobachtung stehen. 29 davon waren mit einer Lebenskrise konfrontiert.
K. C. sagt, er sei sein ganzes Leben fremdbestimmt gewesen. Es sei immer um die Frage gegangen: «Was will Gott?» Jetzt frage er sich zum ersten Mal: «Was will eigentlich ich?»