Die institutionellen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU sind am toten Punkt, die Hardliner in Brüssel geben Bern den Tarif durch.
Vorübergehend keimte in Bern Hoffnung auf: Trotz Annahme der Masseneinwanderungsinitiative und der ungeklärten Frage zur künftigen Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) könnte per Ende Juni ein Stromabkommen abgeschlossen werden. Das Abkommen würde Schweizer Stromproduzenten den Zugang zum EU-Binnenmarkt garantieren. Teile der Branche befürchten ohne Abkommen handfeste wirtschaftliche Nachteile. Angesichts der intensiven Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU würden sich in Brüssel die Pragmatiker durchsetzen, so die Hoffnung. Daraus wird nichts.
Letzte Woche hat die EU die Schweizer Seite per Telefon informiert. Neue Marktzugangsabkommen etwa im Strom- oder Finanzdienstleistungsbereich gebe es nur, wenn die offenen Fragen sowohl bei der Personenfreizügigkeit als auch im institutionellen Bereich (Gerichtsfrage) gelöst sind. Ende der Durchsage.
Für die Schweiz sind das schlechte Nachrichten. Die EU ist offenbar doch weniger flexibel und pragmatisch, als es sich der Bundesrat gewünscht hat. In Brüssel haben die Hardliner Oberwasser. Dies bestätigen auch Recherchen der «Nordwestschweiz».
Gemäss gut informierten Quellen pocht die EU bei den institutionellen Verhandlungen auf eine Art Super-Guillotine. Es geht um die Frage, wie künftig Streitfälle beigelegt werden. Sollte die Schweiz mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg nicht einverstanden sein, dann könne Bern die Umsetzung zwar formell verweigern. Allerdings nur zum Preis, dass sämtliche bilateralen Verträge sistiert werden. Die EU will damit erreichen, dass die Schweiz faktisch an Urteile des EuGH gebunden ist.
Aussenminister Didier Burkhalter versuchte zu Beginn der Verhandlungen, den EuGH zu einem simplen Gutachter herabzustufen. Das Gericht hätte nach Schweizer Lesart Streitfragen begutachten, aber nicht abschliessend beurteilen sollen. Später krebste die Schweizer Seite etwas zurück. Chefunterhändler Yves Rossier wollte den Geltungsbereich eines EuGH-Urteils anerkennen, aber auf ein einzelnes Abkommen beschränken. Mit anderen Worten: Würde die Schweiz ein EuGH-Urteil nicht befolgen, wäre nur das betreffende Einzelabkommen ausser Kraft gesetzt. Doch dazu will die EU dem Vernehmen nach derzeit nicht Hand bieten.
Diese Differenzen sind unüberwindbar. Eine starke Rolle des EuGH ist in der Schweiz innenpolitisch kaum mehrheitsfähig. Die Verhandlungen zwischen Staatssekretär Rossier und EU-Unterhändler Maciej Popowski sind deshalb auf Eis gelegt. Angesichts der eidgenössischen Wahlen im Oktober hat der Bundesrat keine Lust, sich an diesem heiklen Dossier die Finger zu verbrennen. Der EU-Experte Dieter Freiburghaus geht davon aus, dass frühestens Ende Jahr neue Bewegung ins Dossier kommt.
Parallel dazu finden Konsultationen zwischen Staatssekretär Mario Gattiker und Richard Szostak zur Personenfreizügigkeit statt. Der 32-jährige Pole ist ein diplomatischer Berater von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und damit rein hierarchisch bei weitem nicht auf Augenhöhe mit Gattiker. Beobachter in Brüssel werten dies als Zeichen dafür, dass die EU dem Schweizer Anliegen, die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln, kaum Bedeutung beimisst.
In Bern heisst es auf Anfrage nur, die Konsultationen fänden statt. Von den Gesprächen dringt nichts Konkretes an die Öffentlichkeit. Es gibt aber auch in diesem Dossier laut Brüsseler Quellen keinen Grund zur Annahme, dass die EU von ihren Prinzipien abweichen und der Schweiz eine Sonderlösung zugestehen wird.
Der Bundesrat ist verpflichtet, bis im Februar 2017 das Abkommen zur Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln. Gemäss Volksauftrag müssen zur Steuerung der Zuwanderung Kontingente für EU-Bürger sowie ein Inländervorrang eingeführt werden. Eine Kündigung der Personenfreizügigkeit hätte aufgrund der Guillotine-Klausel das Ende der bilateralen Verträge I zur Folge. Über den Beziehungen Schweiz-EU hängt somit weiterhin ein Damoklesschwert.
Weit auseinander liegen derweil die Meinungen, wie dringlich neue Verträge für die Schweiz sind. Während SVP-Chefstratege Christoph Blocher neue Abkommen für wünschbar, aber nicht zwingend hält, kämpft die Wirtschaft mit zunehmender Intensität für den möglichst uneingeschränkten Marktzugang in Europa. Vor allem die Banken und andere Finanzdienstleister fürchten sich vor einer massiven Verschlechterung ihrer Marktposition, sollte die Schweiz nicht bald ein entsprechendes Abkommen mit Brüssel unterzeichnen. Zwischen dem Staatssekretär für internationale Finanzfragen, Jacques de Watteville, und EU-Chefbeamte Jonathan Faull haben diesbezüglich Gespräche stattgefunden. Doch auch in diesem Dossier ist eine Einigung unmöglich, solange die grossen Fragen einer Klärung harren.