Interview
Folter- und Kriegsopfer: «Hunderte Therapieplätze fehlen in der Schweiz»

Belastende Lebensumstände in der Schweiz können Krankheiten bei Flüchtlingen noch verschlimmern, sagt Matthis Schick, der Leiter des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer in Zürich. Hierzulande muss ein Flüchtling oft Monate lang warten, bis ein Therapieplatz frei wird.

Jonas Schmid
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«Traumatische Erlebnisse lassen sich verarbeiten», sagt Matthis Schick vom Ambulatorium für Folter- und Kriegsflüchtlinge in Zürich.

«Traumatische Erlebnisse lassen sich verarbeiten», sagt Matthis Schick vom Ambulatorium für Folter- und Kriegsflüchtlinge in Zürich.

Claudio Thoma

Die Mitarbeiter sind längst im Feierabend. Nur der Chef empfängt noch in seinem Büro: Matthis Schick, Leiter des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer am Universitätsspital Zürich, behandelt Flüchtlinge, deren tragische Erlebnisse kaum mit Worten zu fassen sind. Der 44-jährige Psychiater von athletischer Statur äussert sich pointiert und präzis. Er fordert professionelle Dolmetscher und mehr Behandlungsplätze für traumatisierte Flüchtlinge. Der steigende gesundheitsökonomische Druck führe dazu, dass den Institutionen immer öfter die Zeit und die Geduld fehlten, sich mit ihren Patienten auseinanderzusetzen, kritisiert er.

Herr Schick, mit dem neuen Asylgesetz werden die Verfahren rascher abgewickelt. Was heisst das für Ihre Patienten?

Matthis Schick: Eine lange Wartedauer ist mit Ungewissheit, erzwungener Untätigkeit und belastenden Lebensumständen verbunden. Diese Faktoren erhöhen das Risiko einer psychischen Erkrankung und verschlimmern bestehende Krankheiten. Je länger man wartet, desto komplizierter und chronischer werden die Krankheitsbilder. Sicherheit ist zentral für die Behandlung von Trauma-Folgeerkrankungen. Insofern begrüsse ich ein verkürztes Verfahren.

Wie wichtig ist, dass man rasch mit einer Behandlung beginnt?

Traumafolgestörungen, die länger als ein Jahr unbehandelt bleiben, haben kaum eine Chance, spontan zu verheilen. Mit der Zeit kommen weitere Symptome hinzu, und es wird immer schwieriger, den Zustand einer Person zu verbessern. Der Aufwand steigt, und die Integration leidet darunter. Betroffene sind ohne rechtzeitige Behandlung schlimmstenfalls jahrzehntelang von der Sozialhilfe abhängig. Deshalb ist es entscheidend, möglichst früh mit der Behandlung zu beginnen.

6574 neue Asylgesuche in den ersten fünf Monaten

Aktuell befinden sich rund 64'200 Personen im Asylprozess, rund 53'000 anerkannte Flüchtlinge leben in der Schweiz. Während die Zahl der Asylgesuche im Vergleich zu den Vorjahren deutlich sinkt, ist die Schutzquote (Asylgewährung) eher gestie-
gen. 2014 haben 24'000 Asylsuchende in der Schweiz ein Gesuch eingereicht. Im Rekordjahr 2015 waren es fast 40'000, 2016 suchten 27'200 Personen in der Schweiz Asyl, 2017 waren es 18'100. Zwischen Januar und Mai 2018 sind 6574 Gesuche eingegangen – nochmals etwas weniger als im Vorjahr.

Hingegen schwankt die Schutzquote stark. 2013 lag sie bei 29,8 Prozent, dann stieg sie auf über 58 Prozent (2014), sank erneut und liegt jetzt bei 57,8 Prozent. Die Mehrheit der in der Schweiz lebenden Schutzbedürftigen sind Flüchtlinge (53'000 Personen), die Zahl der vorläufig Aufgenommenen (43'000 Personen) hat vergleichsweise stärker zugenommen. (nch)

Was kostet eine Therapie im Schnitt?

Grundsätzlich rechnen wir die Behandlungen normal über die Krankenkasse ab. Eine intensive Behandlung ist mit wöchentlichen Sitzungen verbunden, in den meisten Fällen dauert sie ein bis zwei Jahre. Das kostet ein paar tausend Franken, wir können damit aber viel erreichen, wenn ein Patient dank der Therapie wieder Lebensqualität gewinnt, arbeiten und am sozialen Leben teilnehmen kann. Zu den Therapiekosten kommen Dolmetscherkosten hinzu, die leider nicht über die Krankenkassen abgerechnet werden können – ein grosses Thema für uns.

Wer bezahlt die Dolmetscher?

Niemand. Das heisst, es gibt einzelne Therapeuten, welche die Kosten aus der eigenen Tasche bezahlen, und einige wenige spezialisierte Institutionen wie wir, die dafür Drittmittel erhalten. Viele Kliniken und Ambulatorien können sich die Kosten aber nicht mehr leisten, weil der gesundheitsökonomische Druck derart steigt. Es heisst: «Sorry, wir können euch nicht behandeln oder aber, ihr müsst selber einen Übersetzer mitnehmen», was wiederum mit anderen Problemen verbunden ist.

Zum Beispiel?

Es gibt viele sensible Themen, deren Offenlegung massive soziale Konsequenzen haben kann. Eine erlittene Vergewaltigung etwa kann die Verstossung aus der Familie oder gar den Tod nach sich ziehen. Betroffene können über die wichtigsten Themen eben gerade nicht reden, wenn die Tochter oder ein Bekannter übersetzt, der spontan Zeit hatte mitzukommen. Studien zeigen, dass Laiendolmetscher häufig zu Übersetzungsfehlern, Verschweigen und Missverständnissen führen. Dadurch kommt es zu Fehlbeurteilungen und unnötigen Kosten.

Lassen sich Traumata überhaupt heilen?

Traumatische Erlebnisse, die etwa von einem Verkehrsunfall stammen, lassen sich weitgehend verarbeiten. Obschon sie Spuren hinterlassen, kann man oft ohne Beeinträchtigung weiterleben. Unsere Patienten hingegen wurden über längere Zeit und mit Absicht aus einem Machtgefälle heraus traumatisiert: Krieg, politische Verfolgung, Angehörige, die verschwinden ... Das lässt sich nicht schönreden oder mit technischen Tricks wegmachen. Die Patienten müssen lernen, mit diesen Erfahrungen zu leben. Bei vielen Patienten können wir relativ viel Gutes bewirken. Es gibt aber auch Menschen, die sehr schwer und chronisch traumatisiert sind, in denen sich das Trauma quasi in jeder Zelle festgesetzt hat. Bei diesen Patienten ist unser Ziel eine Art «Schadensbegrenzung».

Wer kommt zu Ihnen?

Der Durchschnittspatient ist 40 Jahre alt, zwei Drittel sind Männer, und zwei Drittel brauchen einen Übersetzer. Im Schnitt haben unsere Patienten mehr als zehn verschiedene Trauma-Arten erlebt, also etwa die Ermordung von Angehörigen oder Kriegshandlungen. Über 80 Prozent sind gefoltert worden. Praktisch jeder hat eine posttraumatische Belastungsstörung, wenn er zu uns kommt.

Was ist typisch für eine posttraumatische Belastungsstörung?

Betroffene verharren in diesem inneren Zustand des Schreckens oder werden immer wieder darin zurückgeworfen. Konkret äussert sich dies in Wiedererlebenssymptomen, die spontan erfolgen oder durch ähnliche Situationen ausgelöst werden, etwa durch den Anblick einer Uniform, einen Geruch oder eine aggressive Stimme. Die Betroffenen werden wie in einem inneren Film in ihre Erinnerungen zurückversetzt. Sie fühlen sich oft weiterhin bedroht, sind schreckhaft, leiden unter Albträumen und meiden Situationen, die sie ans Trauma erinnern könnten. Das ist sehr belastend.

Wie behandeln Sie diese Patienten?

Bei vielen therapeutischen Ansätzen geht es darum, sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen. Ziel ist es, dass die emotionale Stressreaktion immer schwächer wird. Bei einfachen Traumatisierungen, die leicht abgrenzbar sind, funktioniert das gut. Bei früh in der Biografie einsetzenden und länger andauernden zwischenmenschlichen Traumatisierungen ist es komplexer.

Genügt hierzulande die Betreuung für traumatisierte Flüchtlinge?

Nein. Das Staatssekretariat für Migration hat 2013 festgestellt, dass Hunderte spezialisierte Therapieplätze fehlen. Für die Schweiz gibt es zwar keine Zahlen, aber internationale Studien gehen davon aus, dass im Schnitt 50 Prozent aller Asylsuchenden unter psychischen Beeinträchtigungen leiden. Das bedeutet, dass wir letztlich nur einen kleinen Teil der Behandlungsbedürftigen behandeln können. In Zürich haben wir Wartezeiten von rund neun Monaten, bis wir die zugewiesenen Patienten erstmals sehen können.

Wer weist Ihnen die Patienten zu?

Der grösste Teil kommt über Hausärzte zu uns. Die Asylzentren arbeiten mit diesen zusammen. Aber der Weg dazu ist nicht immer einfach. Häufig arbeiten in den Zentren Betreuungspersonen, die man zuerst überzeugen muss.

Worin liegen die Schwierigkeiten?

Die Art, wie man mit traumatisierten Flüchtlingen umgeht, ist stark vom eigenen Erfahrungshintergrund geprägt. Es gibt Leute, die mit viel Engagement arbeiten. Andere hingegen sind resigniert, distanziert oder betreiben Selbstschutz. Auch mangelnde Ressourcen spielen natürlich eine Rolle. Fairerweise muss man sagen, dass Menschen, die schwer traumatisiert sind, zwischenmenschlich nicht immer einfach sind. Sie sind oft misstrauisch und fühlen sich schnell bedroht. Das löst Probleme aus. Hinter vermeintlichen Querulanten kann also ein Trauma stecken.

Warum fällt Ihnen die Arbeit mit Traumatisierten leichter?

Die Patienten merken, dass wir uns für sie einsetzen und sind dankbar dafür. Manchmal kracht es aber zwischen uns und anderen Institutionen. Überall wird der Gürtel enger geschnallt. Schwierige Klienten sind mühsam, man hat die Kapazität gar nicht mehr, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Die Unterschiede sind aber riesig: Je grösser die Gemeinde, desto eher finden sich spezifisch qualifizierte Mitarbeitende. Mit manchen kleinen Gemeinden aber, die nicht die Mittel für spezialisiertes Personal haben, ist es manchmal schon sehr schwierig – wohl für alle Seiten.

Welche Nationen sind bei Ihnen am stärksten vertreten?

Ein Drittel sind Kurden, vor allem aus der Türkei. Sie bleiben uns aufgrund der politischen Situation erhalten. Einige kamen schon nach dem Putsch 1980 unter die Räder. Sie waren lange im Gefängnis und wurden teilweise unvorstellbar gefoltert. Daneben kommen viele aus Sri Lanka und dem Nahen und Mittleren Osten. Langsam finden auch Syrer den Weg zu uns. Es dauert immer einige Jahre, bis uns ein Konflikt erreicht.

Erkennen Sie kulturelle Muster bei Kriegs- und Folteropfern?

Das wäre verführerisch, führt aber in die falsche Richtung. Letztlich gibt es auch keine typische Schweizer Kultur, die auf Ebene Individuum aussagekräftig wäre. Am Schluss geht es aber immer um das Individuum.

Werden Traumata an Kinder vererbt?

Klar ist, dass sich traumatische Erfahrungen stark auf das Umfeld auswirken können. Kinder sind dabei am verletzlichsten. Es hat aber auch einen Einfluss, welches Welt- und Menschenbild und welche Wertvorstellungen Eltern ihren Kindern mitgeben. Sind die Eltern voller Angst und Misstrauen, wirkt sich dies auch auf die Kinder aus. Umgekehrt kann es sein, dass Eltern sagen: Unser Leben ist gelaufen, aber unsere Kinder sollen jetzt das erreichen, was uns verwehrt geblieben ist. Da wird eine unheimliche Erwartung vermittelt. So geschehen ganz viele subtile und weniger subtile Transfers von einer Generation auf die nächste.