Arbeitsbesuch
Flüchtlingskanzlerin Merkel besucht die Schweiz

Die Schweiz erhofft sich viel vom Besuch von Angela Merkel – doch die hat im Moment andere Sorgen.

Christoph Reichmuth, Berlin
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Angela Merkel interessiert sich für die Schweizer Praxis bei der Bearbeitung von Asylanträgen. Keystone

Angela Merkel interessiert sich für die Schweizer Praxis bei der Bearbeitung von Asylanträgen. Keystone

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Wirklich erholsam dürften die Wanderferien im Südtirol für Kanzlerin Angela Merkel in diesem Sommer kaum gewesen sein. Zuerst drohte Europa beinahe an der Griechenland-Frage zu zerbrechen, es schwelte der Konflikt in der Ukraine gefährlich weiter, und dann – natürlich – waren es die nicht enden wollenden Flüchtlingsströme nach Westeuropa und damit verbundenen menschlichen Dramen, die brennenden Flüchtlingsheime in Deutschland, generell dieses Versagen von Europa und die Frage, ob das Prinzip von Dublin nun gescheitert ist.

Zweiter Besuch nach 2008

Heute reist die mächtigste Frau Europas in die Schweiz, es ist in ihrer nunmehr beinahe zehn Jahre dauernden Amtszeit erst ihr zweiter offizieller Besuch. Die Vorzeichen haben sich in diesen sieben Jahren jedoch gewandelt. Damals ging es noch um Steuerstreit, um Datenträger mit geklauten Bankdaten. 2008 soll, so wird es im Nachhinein beschrieben, die Stimmung eher frostig gewesen sein. Heute ist der automatische Informationsaustausch so gut wie besiegelt, der Bankenstreit in weiter Ferne. Im Zentrum des heutigen Besuches stehen andere Fragen, es geht um Europapolitik sowie um die Energie- und Verkehrspolitik, wie es heisst. Die Schweiz treibt vor allem eine Frage um: Wie weiter nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative vom Februar 2014? Und wie kann die Europäische Union davon überzeugt werden, der Schweiz Hand zu einer Lösung zu bieten, die den Volkswillen respektiert, ohne das Prinzip der Freizügigkeit als Grundsatz über Bord zu werfen?

«Anbindung an die EU erhalten»

Im Moment sieht es in dieser Angelegenheit zumindest zum jetzigen Zeitpunkt eher düster aus – die EU sieht keinen Bedarf an Verhandlungen. Da kommt ein so wichtiger Gast wie die deutsche Bundeskanzlerin vielleicht gerade zur rechten Zeit. Möglicherweise wird die 61-Jährige dafür sorgen können, dass Bewegung in die Angelegenheit kommt. An ihrer Sommerpressekonferenz am Montag in Berlin liess die Kanzlerin auf eine entsprechende Frage erkennen, dass sie in Brüssel dafür sorgen wird, die Schweiz und die EU in den Dialog zu führen: «Wir unterstützen Bemühungen, um eine Lösung zu finden, um eine enge Anbindung der Schweiz an die Europäische Union zu erhalten.» Am Prinzip der Freizügigkeit, so Merkel weiter, wolle man nicht rütteln, «mal gucken, welche Möglichkeiten da gefunden werden. Ich freue mich auf den Besuch in der Schweiz.»

An der Bundespressekonferenz machte Merkel allerdings klar, wo sie die politischen Prioritäten derzeit setzt. Nämlich in der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Ihr Engagement der letzten Tage und ihre Empathiebekundungen haben ihr in einigen deutschen Medien sogar den Titel «Flüchtlingskanzlerin» eingebracht. Besonderes Interesse hat die Kanzlerin dementsprechend vor allem an den seit 2012 in der Schweiz geltenden Schnellverfahren für Personen der so genannten Westbalkan-Staaten. Fast 40 Prozent der Asylgesuche stammen heute in Deutschland von Menschen aus dem Westbalkan, die Anerkennungsrate liegt je nach Staat bei unter einem Prozent. Wegen der prekären Situation in überfüllten Flüchtlingsheimen und der steigenden Tendenz rechtsextremer Übergriffe wird nun sogar von Seiten der SPD der Ruf laut, Menschen ohne positiven Asylentscheid möglichst rasch in die Herkunftsländer abzuschieben. «Ich werde mich auch erkundigen: Die Bearbeitung der Asylanträge ist (in der Schweiz) deutlich kürzer als wir das in Deutschland bisher geschafft haben. Wir werden uns darüber austauschen», kündigte Merkel am Montag an.

Sommaruga für Verteilschlüssel

Möglicherweise wird Merkel auch eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge in Europa zur Sprache bringen, so wie das der ehemalige Schweizer Botschafter in Berlin, Tim Guldimann, im Interview vermutet. Das Dublin-Prinzip ist mehr oder weniger gescheitert, Ungarn hat zuletzt hunderte von Flüchtlingen ohne Registrierung in den Westen weiter reisen lassen. Eine Lösung könnte die Aufteilung der Flüchtlinge nach einer festen Quote sein. Merkel dürfte bei der Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga in dieser Frage auf offene Ohren stossen. Bereits im Mai sagte die SP-Magistratin nach einem Treffen mit dem italienischen Premier Matteo Renzi in Rom, sie halte eine Verteilung nach Quote für sinnvoll. «Ich fordere seit langem einen Verteilschlüssel für Flüchtlinge.»

Nach der Unterredung mit den Schweizer Bundesräten wird Kanzlerin Merkel am Nachmittag in die Universität Bern weiter ziehen. Dort wird sie den Ehrendoktor-Titel entgegennehmen, der ihr bereits 2009 für ihren Einsatz für die Umwelt und den Klimaschutz verliehen worden war. An der Universität Bern hält Merkel zudem eine Rede zu aktuellen Themen in Europa und der EU. Die Veranstaltung ist nicht öffentlich.