«Auschwitz» und «#MeToo»
Fall Fricker und Fall Buttet: Was die Affären verbindet – und was sie unterscheidet

Entwickelt die Schweiz eine Rücktrittskultur? Und was lernen wir als Gesellschaft aus den beiden Affären?

Dennis Bühler
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Traten beide als Nationalräte zurück: Yannick Buttet (CVP) und Jonas Fricker (Grüne).
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Welche Politiker nach Skandalen zurücktraten, welche im Amt blieben
Blieb im Amt: Filippo Lombardi.
Rücktritt: Yannick Buttet.
Rücktritt: Jonas Fricker.

Traten beide als Nationalräte zurück: Yannick Buttet (CVP) und Jonas Fricker (Grüne).

Keystone/Alex Spichale

Während Jahrzehnten galt in der Schweizer Politik eine eiserne Regel: Egal, wie gravierend die Vorwürfe auch sind, die gegen ein Regierungs- oder Parlamentsmitglied erhoben werden, zurücktreten muss es nicht. Die unrühmlichen Abgänge der Bundesräte Elisabeth Kopp und Samuel Schmid waren 1988 und 2008 nicht mehr als Ausnahmen, die die Regel bestätigten.

Aufhorchen lässt deshalb, dass nun innert weniger als drei Monaten gleich zwei Nationalräte den Hut nehmen mussten: Ende September trat der Aargauer Grünen-Politiker Jonas Fricker zurück, nachdem er am Rednerpult im Nationalratssaal den Transport von Schweinen zum Schlachthof mit der Deportation von Juden in Konzentrationslager verglichen hatte. Am Sonntagabend tat es ihm der Walliser CVPler Yannick Buttet gleich, nachdem sechs Frauen den seit zwei Wochen im Raum stehenden Vorwurf, er habe eine Ex-Geliebte gestalkt, mit Berichten mehrfacher mutmasslicher sexueller Belästigung ergänzten.

Sind die beiden Skandale – so unterschiedlich die Fehltritte auch waren – vergleichbar? Gibt es Anzeichen, dass die Schweiz eine Rücktrittskultur entwickelt, wie sie viele Nachbarstaaten längst kennen? Und welche Schlüsse können wir als Gesellschaft aus dem «Fall Fricker» und dem «Fall Buttet» ziehen?

Der verstorbene Soziologe und Medienkritiker Kurt Imhof hat Skandale einst als «Einbruch von Unordnung in die soziale Ordnung» bezeichnet. «Indem der Skandal einen Missstand propagiert, beansprucht er die Geltung der Normen und Werte dieser Ordnung und fordert ihre Wiederherstellung», schrieb er. Mit anderen Worten: Ein medialer Skandalisierungsprozess stellt die in einer Gemeinschaft geltenden Moralvorstellungen auf die Probe und aktualisiert sie bei Bedarf – in der Konfrontation mit als unmoralisch gebrandmarkten Vorgängen bestimmt die Gesellschaft ihre Moral und deren Grenzen immer wieder neu.

Das war auch beim «Fall Fricker» und beim «Fall Buttet» so: Beim Skandal um den «Auschwitz-Vergleich» lotete die Schweizer Öffentlichkeit aus, wie weit radikale Tierschützer in ihrer Kritik gehen dürfen. Beim Skandal um die unerwünschten Annäherungsversuche überprüfte sie, wie viel sich mächtige Männer unter Alkoholeinfluss gegenüber Frauen leisten dürfen und wandte so die #MeToo-Debatte auf die Schweiz an.

Attacken aus eigenen Reihen

Beide Themen – «Antisemitismus für die Grünen, unmoralisches Handeln für die CVP» – seien für die jeweils betroffene Partei höchst sensibel, sagt Historiker und Politikwissenschafter Claude Longchamp. «Sie schadeten ihrem ideologischen Profil.» Es sei daher nicht erstaunlich, dass Fricker und Buttet auch aus den eigenen Reihen angegriffen wurden. Der Aargauer sei vom Zuger Alt-Nationalrat Jo Lang attackiert worden, den Walliser hätten Bundespräsidentin Doris Leuthard, Parteichef Gerhard Pfister, Präsidiumsmitglied Elisabeth Schneider-Schneiter und CVP-Frauen-Chefin Babette Sigg unter Druck gesetzt. Longchamp weist aber auch auf die unterschiedlichen Reaktionen der Skandalisierten hin. Während sich Fricker glaubhaft entschuldigt habe, seien bei Buttet bis heute weder Reue noch Schuldbewusstsein spürbar.

Tatsächlich stempelte sich der bis dahin als Vizepräsident seiner Partei Amtierende vom Täter zum Opfer, als er sein Fehlverhalten mit einem Alkoholproblem zu erklären versuchte und seinen Anwalt lapidar erklären liess, er sei nicht in der Lage, sich an «solche Vorkommnisse» zu erinnern. «Fricker hat das Handtuch viel zu schnell geworfen», sagt Longchamp. «Buttet viel zu spät.»

Skandalgegenstand und -management vermögen aber nicht abschliessend zu erklären, wann ein Politiker stürzt. Auch Zufälle spielen eine Rolle – und pures Glück hilft. Zwei Beispiele: Wie es SVP-Nationalrätin Céline Amaudruz Ende 2015 schaffte, im Amt zu bleiben, obwohl sie betrunken Auto gefahren war und ihre Stellung hatte missbrauchen wollen, als sie Bundesrat Guy Parmelin telefonisch um Hilfe bat, ist im Rückblick rätselhaft. Genauso, dass Ständerat Filippo Lombardi trotz diverser Gesetzesverstösse – oft ebenfalls unter Alkoholeinfluss – bis zum CVP-Fraktionschef aufsteigen konnte. Eine Rücktrittskultur sähe anders aus.