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Lackierte Fingernägel und Bart, weder Frau noch Mann: Als nicht-binäre Person fühlt sich Even keinem Geschlecht zugehörig. Der lange Weg einer Selbstfindung.
Even fällt auf. Dies nur schon wegen des 194 Zentimeter langen Körpers. Aber auch wegen des markanten Gesichts, des trainierten Körpers. Man will sagen: Even ist ein attraktiver Mann. Doch das wäre falsch. Denn da sind auch noch die violett lackierten Fingernägel, die getuschten Wimpern, die hohen Schuhe. Even trägt die Signalemente beider Geschlechter, zugehörig fühlt sich Even: keinem. Even ist nicht-binär, ordnet sich also ausserhalb der herkömmlichen Geschlechterkategorien ein, identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Personen wie Even bleiben in der streng zweigeteilten Geschlechterordnung, wie wir sie kennen, aussen vor.
Einen Text über Even zu schreiben, ist eine Herausforderung. Es gibt in der deutschen Sprache kein Personalpronomen in der dritten Person, mit dem sich Even gemeint fühlt. «Er», «sie», «ihm», «ihr» – diese Wörter fallen weg. Das ist der Grund, warum der Name Even in diesem Text so häufig auftaucht. Man mag es als Anmassung empfinden, dass sich eine Person aufgrund ihrer Geschlechtsidentität den Regeln des grammatischen Geschlechts entzieht. Man kann es aber auch als das gute Recht einer Person sehen, die einen jahrelangen Kampf ausgefochten hat, für die das Finden der eigenen Geschlechtsidentität ein zentrales Lebensthema war.
Dass Even nicht den gängigen Rollenvorstellungen entspricht, bekam Even schon im Kindesalter zu spüren. «Du bewegst dich falsch», hiess es damals oft. In seinen 20ern versuchte Even ein Mann zu sein, mit aller Kraft, las Bücher mit Titeln wie: «Die vier Archetypen des Mannes». Das Einzige, das von der Lektüre blieb, war Ratlosigkeit. Der Militärdienst, diese «Schule der Männlichkeit», liess Even beinahe verzweifeln, Suizidgedanken tauchten auf. Die sozialen Erwartungen und Evens Identität klafften immer weiter auseinander. «Der Schmerz wurde immer stärker, als hätte ich einen Stein im Schuh und einen davon wunden Fuss.» Mit Anfang 30 begann Even mit den männlichen Geschlechtskonventionen zu brechen, wenn auch zunächst nur zaghaft. Lackierte sich erstmals die Fingernägel, noch nicht tagsüber, erst einmal nur abends. Wurde von der Bardame nach dem Grund gefragt und verlor sich in Erklärungsversuchen. Inzwischen hat Even die Antwort gefunden: «Weil es mir gefällt.»
Even gefällt es auch, im schwarzen Kleid ein Konzert im KKL Luzern zu besuchen. Die Blicke, die ein solcher Auftritt unweigerlich auf sich zieht, nimmt Even nicht mehr wahr. Seit fünf, sechs Jahren trägt Even das nicht-binäre Geschlecht auch konsequent nach aussen. Es war eine Serie kleiner Schritte, die stets begleitet waren von der Angst, abgelehnt zu werden, und deshalb «immer wieder unglaublich viel Mut erfordert haben». Even wurde zu Even, was im Englischen «ausgeglichen» bedeutet. Der eindeutig männliche Taufname ist Geschichte. Aus Evens nach 20 Jahren geschiedener Ehe sind drei Kinder hervorgegangen, sie sind heute 17, 15 und 10 Jahre alt. Ohne ihr Einverständnis hätte Even nicht für dieses Porträt zugesagt. Es gab Zeiten, da baten die Kinder Even, in ihrer Begleitung keinen Rock zu tragen. Diese Vorbehalte sind heute verschwunden. Zwar ist Even für die Kinder immer noch der «Papa», den Artikel lassen sie inzwischen aber weg. «Das freut mich sehr», sagt Even. Auf die Frage, welches Geschlecht denn die Kinder hätten, antwortet Even: «Das ist irrelevant. Die wichtige Frage ist: Geht es ihnen gut?»
Gemäss Angaben des Transgender Network Switzerland (TGNS) unterscheidet sich bei 0,5 bis 3 Prozent der Bevölkerung die Geschlechtsidentität von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht. Nimmt man diese Quote als Grundlage, dann leben in der Schweiz bis zu 250 000 Transmenschen. Über die Hälfte von ihnen identifiziert sich gemäss dem TGNS weder ausschliesslich mit dem männlichen noch ausschliesslich mit dem weiblichen Geschlecht. Für diese sogenannten nicht-
binären Transmenschen bringe die Vorlage für eine unbürokratische Änderung des Vornamens, die der Bundesrat im Mai in die Vernehmlassung geschickt hat, keine Verbesserung. Das schreibt das TGNS in seiner Vernehmlassungsantwort von Anfang August. Für nicht-binäre Personen brauche es Alternativen neben den heute bekannten amtlichen Geschlechtern «M» und «F». Als Lösungsvarianten nennt das TGNS unter anderem die Einführung weiterer amtlicher Geschlechter oder aber gleich den Verzicht auf jegliche Geschlechtsregistrierung. Eine dieser Varianten muss auch das Parlament in Deutschland wählen – auf Geheiss des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Dieses hielt im Oktober 2017 fest, die heutige Regelung beachte die Geschlechtsidentität der nicht-binären Personen nur ungenügend
Der Bundesrat will hierzulande zwar vorderhand
kein drittes Geschlecht einführen. Die Schweiz müsse
sich aber mit der Frage auseinandersetzen, teilte die Landesregierung im Mai mit. Man werde dazu einen Bericht erstellen.
Es gibt ganz verschiedene Ausprägungen der nicht-binären Geschlechtsidentität. Even bezeichnet sich als «gender-free», grenzt sich damit explizit von den bekannten Geschlechterkategorien ab. Even erlebte auch eine «genderfluide» Phase mit fliessendem Geschlechtsempfinden. Es kam vor, dass Even morgens mit dem Gefühl aus dem Haus ging, eher Frau als Mann zu sein, um dann noch im Verlauf des Vormittags zu «kippen». Heute, mit 45 Jahren, hat sich Even gefunden. Auf der Website der Firma für versicherungsmathematische Beratung, die Even vor sieben Jahren in Zug gegründet hat, findet sich die Bitte um eine Anrede ohne Gender-Bezug. «Werde ich mit ‹Lieber Even› angeschrieben, dann korrigiere ich diese Person nicht.» Als Kunde ist Even hartnäckiger. Weil aber weder die Bank noch der Telekomanbieter oder die SBB eine geschlechterneutrale Anrede kennen, nimmt Even mit der weiblichen Form vorlieb: «Frau Meier fühlt sich weniger falsch an als Herr Meier.»
Im Personenstandsregister ist Even als Mann eingetragen. Daran würde Even selbst dann festhalten, wenn die Änderung des amtlichen Geschlechts gemäss den Plänen des Bundesrates vereinfacht werden sollte. «Ich warte darauf, dass im Schweizer Pass neben dem M und dem F ein X eingesetzt werden kann.» Mit der Einführung eines solchen dritten Geschlechts würde sich Even «gesehen fühlen» – und die Post wäre fortan richtig adressiert.
Vielleicht erlebt Even dies noch, der gesellschaftspolitische Trend in der Schweiz geht jedenfalls klar in Richtung Öffnung. «Solange am binären Geschlechtersystem festgehalten wird, kommen Menschen wie ich nie an», sagt Even. «Durch mein Coming-out hat sich meine Lebensqualität massiv verbessert. Doch manchmal ist es anstrengend.» Da sind die Hürden im Alltag, von denen die Mehrheit gar nichts ahnt. Was tun, wenn die Toilette geschlechtergetrennt ist? «Wenn ich wählen kann, nehme ich die rollstuhlgerechte Toilette, denn die ist genderfrei», sagt Even.
Auf zwischenmenschliche Hürden trifft Even hingegen nur selten. Anfeindungen sind die grosse Ausnahme, es überwiegen die positiven Reaktionen. Da ist die Seniorin, die Even zuruft: «Das machen Sie super!» Da ist der Hells Angel, der sich vor Even aufbaut und sagt: «Ich habe einen verdammt grossen Respekt vor dir.» Da ist der Onkel, der sagt: «Ich verstehe das nicht. Aber kannst du es mir erklären?» Und da ist die nahe Verwandte, deren Rückmeldung Even besonders berührt hat. Als sich Even für eine Beerdigung so anzog, wie sich Even eben anziehen wollte, da sagte die Verwandte: «Zum ersten Mal sehe ich dich.»