Schweiz – EU
EU zögert mit neuen Regeln bei Medizinalprodukten – hilft das Schweizer Anbietern?

Obwohl sich die neuen Regeln in der EU für Medizinalprodukte verzögern, drohen Schweizer Firmen bereits im Frühling vom EU-Markt abgeschnitten zu werden. So oder so: Die Wernli AG im aargauischen Rothrist lagert aus nach Ungarn.

Remo Hess, Brüssel
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Noch verpacken Mitarbeiterinnen der Wernli AG Verbandmaterial in der Schweiz.

Noch verpacken Mitarbeiterinnen der Wernli AG Verbandmaterial in der Schweiz.

CH Media

Für die Schweizer Medizinalbranche mit ihren rund 60'000 Angestellten ist es eine Herausforderung: Ende Mai führt die EU neue Regeln für die Zulassung von Medizinalprodukten ein. Wegen des Streits um das Rahmenabkommen weigert sich Brüssel jedoch, die Schweizer Gesetzgebung als gleichwertig anzuerkennen. Den Schweizer Medtech-Firmen drohen damit ab Mai Hindernisse beim Zugang auf den EU-Markt. Einige Produzenten wie die Aargauer Wernli AG haben deshalb bereits Stellen ins Ausland verlagert.

Ein EU-Entscheid von letzter Woche jedoch könnte der Schweizer Medtech-Branche wenigstens in einem Teilbereich etwas Luft verschaffen: Skalpelle und andere chirurgische Instrumente sollen bis 2024 weiterhin nach den alten Regeln auf den Markt gebracht werden. Der Grund: Bis dato sind EU-weit erst sieben Zertifizierungsstellen nach neuem Recht geschaffen worden. Das sind viel zu wenige. Es droht ein Zertifizierungsstau und ein Engpass bei den potenziell lebensrettenden Instrumenten. Im Dienste der Patientensicherheit gewährt die EU in diesem Bereich nun eine zweijährige Schonfrist.

Mehrkosten für Schweizer Firmen in Millionenhöhe

Theoretisch müssten auch Schweizer Produzenten von dieser Schonfrist profitieren können. Denn im Grunde verlängert die EU für Skalpelle und Co. einfach die Gültigkeitsdauer der alten Regulierung, welche sie heute auch für die Schweiz als gleichwertig anerkennt. Allerdings klafft zwischen Theorie und Praxis ein Interpretationsspielraum. Entscheidend ist, wie das Abkommen über den Abbau technischer Handelshemmnisse (MRA) ausgelegt wird, das

die Rechtslage zwischen der Schweiz und der EU koordiniert. Das strengste Szenario geht davon aus, dass ohne Aktualisierung Ende Mai die Schweiz generell der Drittstaatenregelung unterliegt. Eine weiche Interpretation hingegen nimmt an, dass auch ohne Aktualisierung des MRA die Schweiz von den Übergangsfristen profitieren kann. Ein Beobachter beschreibt es so: Es geht darum, ob die zur EU gebaute Brücke auf einen Schlag zusammenfällt oder Stück für Stück wegbröckelt.

Für den Fall, dass Schweizer Medtechfirmen vom EU-Markt abgeschnitten würden, entstehen zusätzliche Anforderungen für ihre Produkte: Wie alle Drittstaatanbieter ausserhalb der EU müssten sie einen lokalen Ansprechpartner benennen und ihre Produkte neu etikettieren. Laut Peter Studer vom Branchenverband «Swiss Medtech» gerade für Firmen mit einem breiteren Portfolio eine grosse Herausforderung: Die Mehrkosten könnten mehrere hundert Millionen Franken betragen.

Beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ist man sich dem Problem bewusst. Auf Anfrage heisst es, dass man versuche, die von der EU beschlossene Schonfrist ins Schweizer Recht zu übernehmen. Dazu sei man mit der EU-Kommission in Kontakt. Dass das gelingt, ist jedoch fraglich. Offiziell gilt in Brüssel immer noch die Doktrin: keine Aktualisierung bestehender Abkommen inklusive Gleichwertigkeits-Anerkennungen, solange es beim Rahmenabkommen nicht vorwärts geht.

Medtech-Firmen von EU-Kommission abhängig

Angesichts dessen betont das Seco, es erwarte, dass die EU die «derzeitigen Bestimmungen des Abkommens im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen» einhalte. Bern setzt sich also auf den Standpunkt, dass immerhin die erworbenen Rechte und Produktanerkennungen fortgeführt werden müssen, selbst wenn das MRA-Abkommen nicht aktualisiert würde.

Das Problem: Es gibt für nichts eine Garantie. Anders als mit einem institutionellen Rahmenabkommen existiert unter dem gegenwärtigen Regime keine einheitliche Auslegung der bilateralen Abkommen. Jede Seite interpretiert den Vertragstext so, wie sie will. Wenn es zu Streit kommt, gibt es darüber hinaus keinen Schlichtungsmechanismus. Wie die EU-Kommission im Mai mit den Schweizer Medtech-Firmen verfahren will, liegt daher in ihrem alleinigen Ermessen. Laut Insidern mehren sich die Stimmen, die eine möglichst harte Linie fordern.

Wernli AG verlagert nach Ungarn

Wernli AG verlagert nach Ungarn Reaktion Zu spät, zu wenig. So könnte man die Auswirkungen der EU-Schonfrist auf die Schweizer Firma Wernli AG beschreiben. Das Aargauer Medizinaltechnik-Unternehmen hatte letzte Woche die Verlagerung von 25 Arbeitsplätzen nach Ungarn angekündigt, weil die Firma ohne Rahmenabkommen per 26. Mai 2020 den privilegierten Zugang zum EU-Markt verloren hätte. Jetzt verzögert die Europäische Union zwar die Einführung der neuen Verordnung um zwei Jahre, doch der Wernli AG hilft das nicht. «Leider gehören unsere Produkte nicht zu denjenigen, für die die Neuregelung aufgeschoben wird», sagt Firmenchef Felix Schönle. Ohnehin hätte auch das wohl nichts genützt. «Wir sind nun etwa ein halbes Jahr vor Inkrafttreten der neuen Regelungen. Irgendwann muss man eine Entscheidung treffen», sagt Schönle. Einen Monat bevor man den Marktzugang verliert, kann man keine Alternative umsetzen.» Die Unsicherheit schade. Schönle: «Nicht nur unserer Branche, sondern zum Beispiel auch den Maschinenherstellern.» (lei)