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Schweiz
Ab heute weilt der tunesische Präsident Béji Caïd Essebsi in der Schweiz. Der 89-Jährige steht an der Spitze eines Landes, das einerseits als Hoffnungsträger des arabischen Frühlings gilt, andererseits vor enormen Problemen steht.
Bei ihm lohnt sich ein Blick in die Familiengeschichte: Im frühen 19. Jahrhundert wird Béji Caïd Essebsis Urgrossvater, ein Sarde, von tunesischen Seeräubern aus Sardinien entführt. Als Geschenk landet der 10-Jährige am Hof des Bey von Tunis, des Statthalters des Osmanischen Reichs.
Ein märchenhafter Aufstieg folgt: Der italienische Sklave schafft es zum einflussreichen Vorbereiter der damals gängigen Pfeifen-Rauch-Zeremonien (es-Sebsi). Die Bezeichnung wird später sein Name. Als Pfeifenwart gewinnt er das Vertrauen des Bey, wird sein Berater und heiratet sich in den Adel ein. Eines der sieben Kinder aus dieser Ehe ist der Grossvater des heutigen Staatspräsidenten Béji Caïd Essebsi.
Der Politveteran
Heute und morgen ist Tunesiens erster demokratisch gewählter Präsident auf Staatsbesuch in der Schweiz. Die Visite war eigentlich letzten November geplant. Essebsi aber sagte die Reise kurzfristig ab, nachdem am Vorabend bei einem Terroranschlag mitten in der Hauptstadt Tunis zwölf Mitglieder seiner eigenen Präsidentengarde starben.
Essebsi war Weggefährte des tunesischen Staatsgründers Bourguiba, Geheimdienstchef, Innenminister, Verteidigungsminister, später Botschafter in Paris und Bonn. Auch in der Regierung Ben Ali spielte Essebsi eine Rolle, verabschiedete sich 1994 allerdings von der Politbühne. Ein schlauer Zug: Viele Tunesier sehen in ihm eine Art Vaterfigur und nicht einen Teil der alten Ben-Ali-Garde, die das Land plünderte.
84-jährig wurde Essebsi nach der Jugendrevolte von 2011 an die Staatsspitze gespült. «Mangels Alternativen», sagt die gebürtige Tunesierin und Schweizer Verfechterin eines progressiven Islam, Saïda Keller-Messahli.
Die Ablehnung der Islamisten würde die Anhänger seiner Partei Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens) einen.
Das Land hat massive Probleme mit Terrorismus und Dschihadismus. Die Angriffe vom letzten Jahr auf das Nationalmuseum in Tunis und auf ein Strandhotel in Sousse mit Dutzenden Feriengästen unter den Toten lähmen den wichtigen Tourismussektor.
Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit bilden ein Pulverfass: Im besseren Fall sitzen desillusionierte junge Tunesier in den Strassencafés oder sind nach Europa emigriert. Im schlechteren Fall zogen sie in den Krieg. Aus keinem Land sollen sich mehr Kämpfer dem IS in Syrien angeschlossen haben.
«Nach ihrem Wahlsieg im Jahr 2011 überzogen die Islamisten das Land umgehend mit ihrem Netzwerk, um Dschihadisten zu rekrutieren», sagt Saïda Keller-Messahli. Das sei den Tunesiern bewusst, weshalb viele bei den Wahlen vor über einem Jahr der Partei von Essebsi ihre Stimmen gaben.
Doch die Partei ist zerstritten. «Viele Politiker stellen ihr Ego über die Sache und positionieren sich nun für die Gemeindewahlen im Herbst», sagt Keller-Messahli. Zu ihnen gehöre ausgerechnet Essebsis Sohn. «Das missfällt den Tunesiern. Bei ihnen sind Familienclans, die ihre Macht ausnutzen, verhasst.» Zu sehr erinnert das die Tunesier an die Ära Ben Ali.
Und so fürchtet Keller-Messahli um die Zukunft des Landes: «Die Machtkämpfe innerhalb Essebsis Partei haben zu einer Mehrheit der Islamisten im Parlament geführt. Diesen Umstand werden diese ausnützen wollen.»
Ist er auch ein Demokrat?
Nicht alle sehen in Essebsi einen Musterdemokraten. Nach den Terroranschlägen rief der Präsident jeweils den Notstand aus, was rechtsstaatliche Prinzipien aushebelt. Der nach dem Attentat im November ausgerufene Ausnahmezustand dauert noch bis dieses Wochenende an.
Mit der Wiedereinführung der Todesstrafe für Terroristen hebelte der Präsident zudem zivilisatorische Errungenschaften aus. Damit sei Essebsi einem Ruf der Bevölkerung gefolgt, wie Saïda Keller-Messahli sagt.
Aber auch Homosexuelle haben es in Tunesien schwer. Entgegen einem Vorschlag des Justizministers hat Essebsi die Haftstrafen für Homosexualität nicht aufgehoben.
Und nun trifft der Staatsmann an der Spitze dieser jungen Demokratie in Bern auf die Regierung einer alten Demokratie. Worin liegt die Zusammenarbeit?
Die Schweiz arbeitet seit 2012 eng mit dem nordafrikanischen Land zusammen. Das Engagement in Tunesien kostete die Schweiz im letzten Jahr 25 Millionen. 2014 waren es noch 16 Millionen. Damit will sie zur demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Beides Antworten auf Auswanderung und Terrorismus.
Die Auswanderung von jungen Tunesiern in die Schweiz konnte dank einer Migrationspartnerschaft stark reduziert werden.
Bleibt der Terror: Essebsi weiss, dass der IS sein Land in den Abgrund reissen kann. So gesehen wären ihm ein paar tunesische Seeräuber heute wohl lieber.