Die Reise einiger Schweizer Politiker nach Eritrea respektive ihre Eindrücke und Erkenntnisse, die sie mit nach Hause brachten, wurden viel beachtet. Doch was soll man davon halten? Der Wochenkommentar von Gieri Cavelty.
Eines meiner Lieblingsbücher stammt aus dem Jahr 1977 und hat eine doppelte Autorenschaft: Der Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann und die Journalistin Klara Obermüller hatten die DDR bereist und berichteten dem Schweizer Publikum nun von ihren Eindrücken. «DDR – Tagebuch einer Erkundungsfahrt» ist der staunenswerteste Ausdruck menschlicher Naivität, der mir je untergekommen ist.
Mein Lieblingsbuch ist es wegen seiner unfreiwilligen Komik. Diggelmann und Obermüller betonen, sie hätten keine Musterbetriebe und Vorzeigefabriken vorgeführt erhalten, vielmehr einen ungeschönten Einblick ins Arbeiter- und Bauernparadies. Was aber können die Besucher aus der Schweiz dafür, wenn dieser ungeschminkte Alltag so superschön ist? Ein Müsterchen für die Recherchierkunst der DDR-Touristen: Das Autorenpaar möchte «eine Arbeiterfamilie besuchen, wir möchten sehen, wie Arbeiter wohnen».
In einem Möbelkombinat werden sie von einer scheinbar einfachen Arbeiterin scheinbar spontan zu sich nach Hause geladen. Dass der Gatte der Arbeiterin ein Polizeimajor ist, weckt keinerlei Argwohn. Im Gegenteil: Man lässt den Mann über mehrere Seiten des «Tagebuchs» ausführen, welchen Stellenwert die Gerechtigkeit in der DDR geniesst und dass im Westen punkto Schiessbefehl an der Grenze grobe Missverständnisse bestünden.
Gereist sind auch andere: Der junge Max Frisch etwa unterrichtete Mitte der 1930er-Jahre die Leserschaft der «NZZ» über einen Ausflug ins Dritte Reich. Seine Feuilletons über den Alltag unter dem Hakenkreuz sind keine Schwärmerei für den Nationalsozialismus. Oberflächlich aber sind sie, mithin verharmlosend, eine intellektuelle Fehlleistung.
Noch peinlicher freilich sind – zum Beispiel – die 1937 in einer Ostschweizer Tageszeitung abgedruckten Reportagen eines bürgerlichen Politikers, der sich auf eine «kurze Ferienreise ins deutsche Rheingebiet» gemacht hatte und aufzeigen wollte, dass Herr und Frau Schweizer falsche Vorurteile gegenüber Nazideutschland hegten.
Womit wir bei Eritrea angelangt sind. Um es kurz zu machen: Verbringt ein Politiker Ferien am Horn von Afrika, so ist ihm das zu gönnen. Bloss: Urlaub ist Urlaub, und Politik ist Politik. In mehreren Zeitungsartikeln haben die grüne Aargauer Regierungsrätin Susanne Hochuli und der Zuger SVP-Nationalrat Thomas Aeschi während der letzten zwei Wochen von ihren Ferienerlebnissen in Eritrea berichtet.
Beide schwärmen von der Zugänglichkeit der Menschen, beide zeichnen das Bild eines ebenso schönen wie ungefährlichen, wenn auch wirtschaftlich darbenden Landes. Damit wandeln Hochuli und Aeschi auf den Spuren von Walter Matthias Diggelmann und Klara Obermüller. Auch die Eritrea-Besucher treffen auf Funktionäre, stellen ihnen vielleicht kritisch gemeinte, in Wahrheit aber unbedarfte Fragen und transportieren dann mehr oder minder ungefiltert deren Antworten.
Doch nicht genug: Nach ihrer Rückkehr präsentierten die Ostafrika-Touristen dem Bundesrat einen Katalog mit politischen Forderungen. So weit, Eritreer seien umgehend zurückzuschicken, gehen sie nicht. Allerdings führt die blosse Mischung aus Ferienreminiszenzen und der Existenz eines Katalogs mit politischen Forderungen beim breiten Publikum zu dieser logischen Schlussfolgerung:
a) Die heutige Eritrea-Politik ist falsch.
b) Die heutige Eritrea-Politik besteht im Wesentlichen in der Gewährung von
Asyl für Eritreer.
c) Also ist die Gewährung von Asyl für Eritreer falsch.
Die Eritreer beschäftigen die Politik seit dem Jahr 2005. Damals befanden die verantwortlichen obersten Richter, Dienstverweigerern aus Eritrea sei Asyl zu gewähren, weil ihnen in ihrer Heimat eine unverhältnismässig strenge Strafe, sprich: Folter, drohe. In der Folge rieb man sich in Bundesbern an der steigenden Zahl eritreischer Schutzsuchender. Man fabrizierte jene Asylgesetzrevision, über die wir 2013 an der Urne befunden haben.
Seither steht im Gesetz, dass Desertion allein kein Asylgrund sei. Auch dies ist eine im höchsten Mass kuriose Geschichte: Denn natürlich war Desertion schon vorher kein Asylgrund – es ging und geht um die unverhältnismässig schwere Strafe, die Zurückgeschafften droht. Entsprechend macht das neue Gesetz auf die eritreischen Flüchtlinge ungefähr so viel Eindruck wie Klara Obermüllers Presseausweis auf einen DDR-Polizeimajor.
Die Anzahl Asylgesuche von Eritreern ist weiterhin gestiegen und hat im letzten Jahr die Marke von 10 000 erreicht.
Das Erstaunlichste an der ganzen Sache ist ihre Einfachheit: Die Experten in ganz Europa sind sich nicht einig, was in Eritrea wirklich passiert. Die einen behaupten, Deserteure würden inzwischen nur mehr für kurze Zeit inhaftiert und anschliessend wieder in den sogenannten Nationaldienst überführt. Andere bezweifeln das.
Weil Menschenrechtsbeobachter keinen Zugang zu den Gefängnissen im Land haben, kann sich niemand ein abschliessendes Urteil bilden. Und solange das so ist, das Regime in Eritrea keine wirklichen Inspektionen zulässt – so lange muss man vom Schlimmsten ausgehen und kann Eritreer nicht in ihre Heimat zurückschicken. Daran ändert weder die blumigste Reportage einer Regierungsrätin noch das herzigste Ferienföteli eines Nationalrats irgendetwas.