Startseite
Schweiz
Die Zahl der kirchlichen Taufen in der Schweiz geht markant zurück. Aufschwung haben dagegen freie Willkommensrituale.
«Liebes Menschenkind, du bist in diese Welt gekommen zu uns wie ein Stern, der vom Himmel fiel.» Mit diesen Worten beginnt Nicolas Lindt das von ihm gestaltete Taufritual. Der Schriftsteller und Ritualgestalter gehört keiner Kirche an und leitet seit 21 Jahren Zeremonien im Zeichen der Liebe. «Anfänglich wurde ich meist für Trauungen gebucht. Heute sind auch Taufen sehr gefragt», sagt Lindt.
Diese Entwicklung führt er auf ein verstärktes Hinterfragen von gesellschaftlichen Konventionen zurück. «Eltern wollen ihrem Kind nach der Geburt nicht einfach einen Glauben überstülpen, wie man dies lange gemacht hat.» Stattdessen sei es ihnen wichtig, das Kind feierlich in die Gemeinschaft der Menschen aufzunehmen. Am liebsten mit einer Zeremonie, bei der das Taufkind im Mittelpunkt steht.
Gegen eine klassische Taufe im Namen Gottes und damit die Aufnahme in eine Kirche haben sich auch Patrick und Nadja B. aus Aefligen BE entschieden. Als zu starr, zu weit weg vom alltäglichen Leben und zu wenig persönlich erlebte das Ehepaar kirchliche Taufen in der Vergangenheit. Die Taufzeremonie für die zweijährige Tochter Pauline gestaltete denn auch nicht ein Pfarrer, sondern Nicolas Lindt. Sie fand an einem strahlenden Sommertag letzten August in einem verwunschenen Garten an einem Weiher statt.
Damit erfüllte das Paar auch einen Wunsch der 90-jährigen Urgrossmutter. «Sie war so begeistert vom freien Ritual für unseren Sohn Bastian, zwei Jahre zuvor in Saas-Fee VS, dass sie unter keinen Umständen eine kirchliche Taufe für ihr Urenkeli wollte», erzählt Patrick B. Zwar sind er und seine Frau noch Mitglied der reformierten Kirche, allerdings mit zunehmender Distanz. Das Paar will seinen Kindern den Entscheid überlassen, ob sie später einem Glauben beitreten oder nicht.
So wie Patrick und Nadja B. handeln viele Eltern in der Schweiz. Von den 85'600 Kindern, die vergangenes Jahr das Licht der Welt erblickt haben, wurden lediglich 33'000 landeskirchlich getauft. Innerhalb von 25 Jahren gingen bei den Reformierten die Taufen um 50 Prozent zurück, bei den Katholiken um 40 Prozent. Das zeigen Zahlen des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI). Früher gehörte man fast automatisch seit der Geburt einer der beiden Landeskirchen an.
Das hat sich verändert. So gehört ein Viertel der Bevölkerung heute keiner Religion mehr an. «Und dass ein konfessionsloses Paar sein Kind taufen lässt, ist eher unwahrscheinlich», sagt Judith Albisser vom SPI. Zudem findet eine Emanzipation von kirchlichen Traditionen statt. «Auch Gläubige hinterfragen mehr und gestalten dadurch die religiöse Biografie selber.» Deutlich zeige sich dies bei den kirchlichen Trauungen, die noch stärker zurückgehen. «Kirchliche Taufen sind dagegen noch immer recht gut verankert.»
Darauf gilt es aufzubauen, ist Christoph Müller, emeritierter Professor für Theologie von der Uni Bern, überzeugt. Es sei richtig, dass Pfarrerinnen und Pfarrer heute stärker auf die Gläubigen eingehen und dadurch die Tauf-Gottesdienste lebensnaher gestalten. «Zu lange haben die Kirchen kaum hingehört, was die Eltern bei einer Taufe wirklich beschäftigt», sagt Müller. Taufgespräche seien oft auf Formalien beschränkt und die Feier nach einem fixen Schema abgewickelt worden. «So sind viele negative Erfahrungen entstanden.»
Dabei seien gerade Taufgespräche auf gleicher Augenhöhe wichtig. «Dadurch erfahren die Familien einen Zusammenhang zwischen dem realen Leben, den Fragen, die dieses mit sich bringt, und der Taufe, die sie gemeinsam mit anderen Menschen feiern.»
Eine Schwierigkeit, die sich jedoch gerade bei den Reformierten stellt: Getauft wird während des Gottesdienstes in der Kirche. Somit fallen Feiern im Kreis der Familie und an lauschigen Orten weg. Das soll sich ändern, findet Andrea Marco Bianca, Pfarrer und Zürcher Kirchenrat. Er setzt sich dafür ein, dass die Kirchenordnung entsprechend angepasst wird.
«Auch in der Bibel feierte man Taufen meist zu Hause oder im Freien», sagt er. Zudem habe schon Jesus betont, dass die Menschen und nicht die religiösen Vorgaben im Zentrum stehen sollten.
Ob die Kirche die Vorurteile von einer starren Sakrament-Spende ohne Individualität abbauen und Familien für sich gewinnen kann, wird sich zeigen. Pfarrer Bianca setzt grosse Hoffnung darauf: «Wer in den ersten 20 Lebensjahren keinen Zugang zu etwas Höherem und damit zum Glauben findet, dem wird dies im erwachsenen Leben nur schwer gelingen.»