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Schweiz
Helmut Hubacher, der grosse alte Mann der Schweizer Sozialdemokratie, ist tot. Ihm verdankt die SP den Wandel von der Arbeiter- zur Mittelstandspartei. Und mit seinen Kolumnen stiftete er Unruhe bis kurz vor seinem Tod.
Es war vor fünf Jahren, als Helmut Hubacher uns Journalisten mit seiner Frau Gret Hungerbühler in ihrem Haus in Courtemaîche (JU) zum Interview empfingen. Er war damals 89 Jahre alt.
Zweieinhalb Stunden dauerte das Gespräch, das am 2. August 2015 in der «Schweiz am Sonntag» (heute «Schweiz am Wochenende») erschienen ist. Im Anschluss führte Hubacher uns Journalisten munter durch Haus und Garten. Die drückende Sommerhitze schien ihm nichts auszumachen.
Wir waren beeindruckt von seiner Präzision, Geistesgegenwart und Präsenz. Auch davon, wie gut er nach wie vor über das politische Geschehen im Bild war.
Er las täglich sieben Tageszeitungen, die er abonniert hatte: «Tages-Anzeiger», «NZZ», «Blick», «bz Basel», «Basler Zeitung», den «Quotidien Jurassien» und die «Frankfurter Rundschau». Dazu kamen die Sonntagsmedien.
Den Anschluss an den Computer hatte er allerdings verpasst. Eine Schreibmaschine und ein Faxgerät taten es auch. Er spüre aber langsam, dass es Nachteile gebe, «gerade ohne Internet», sagte er vor fünf Jahren. «Aber ich habe mein eigenes kleines Archiv und ein gutes Gedächtnis.»
Nun lebt der grosse alte Mann der Schweizer Sozialdemokratie nicht mehr. Am Mittwoch erlag er seiner Krankheit. Noch am 26. Juni hatte Hubacher diese selbst angekündigt. «Eine schwere gesundheitliche Belastung wirft mich aus der Bahn», schrieb er in seiner letzten «Blick»-Kolumne: «Ich muss mich verabschieden.» Die Kolumne trug den versöhnlichen Titel: «Ich liebe die Schweiz».
Es ist der Abschied «eines ganz Grossen» (Bundesrat Alain Berset) der Schweizer Politik des 20. Jahrhunderts. Hubacher sass von 1963 bis 1997 im Nationalrat. 34 Jahre lang. Das ist nach heutigen Massstäben eine Ewigkeit. Von 1975 bis 1990 war er Präsident der SP Schweiz.
Hubacher war die prägende Figur in der SP während der Schweizer Reformphase nach 1968. Ähnlich, wie es Kurt Furgler (1955-71 Nationalrat, 1981-86 Bundesrat) für die CVP war.
«Er coachte mit der sogenannten ‹Vierer Bande› aus Lilian Uchtenhagen, Walter Renschler und Andreas Gerwig den Wandel der SP von der alten Arbeitermilieu-Partei zur Partei der neuen Mittelschichten», sagt Historiker Urs Altermatt, der Hubachers Zeit als Beobachter eng mitverfolgte. «Später stiessen Politikerinnen und Politiker aus der 68er-Bewegung dazu.»
Bei seinem Einstand als Präsident konnte er 1975 gleich einen überraschenden Erfolg verbuchen. Nach dem Sinkflug zwischen 1963 und 1971 von 26,6 auf 22,9 Wählerprozente brachte er die SP zurück auf 24,9 Prozent. In seiner Amtszeit sank der Wähleranteil allerdings massiv - bis auf 18,4 Prozent (1987).
Dennoch entwickelte Hubacher die Partei inhaltlich weiter. Die soziale Frage blieb unter ihm im Zentrum. Er baute die SP aber auch zur Umwelt- und Frauenpartei um. Das zeigte sich exemplarisch bei der Frage des Atomkraftwerks Kaiseraugst.
Bis weit in die 1970er-Jahre hinein war die SP eine Verfechterin von Atomkraftwerken. Mit Willi Ritschard stellte sie auch den Energieminister. Der geplante Bau des AKW Kaiseraugst spaltete die Partei. Als das Gelände besetzt wurde, erwog der Bundesrat einen Militäreinsatz.
«Ritschard sagte mir persönlich, er werde in diesem Fall als Bundesrat sofort zurücktreten», erzählte Hubacher am 5. Oktober 2019 in der «Schweiz am Wochenende». Ritschard habe sich auch auf ein Gespräch mit den Besetzern eingelassen, was letztlich zum Ende von Kaiseraugst geführt habe. Hubacher betonte: «Die SP hat Kaiseraugst schon am Parteitag von 1978 beerdigt.» Realpolitisch war das aber erst 1988 der Fall.
1983 erlebte Hubacher seine grösste politische Niederlage. Das Parlament wählte nicht die offizielle Kandidatin Lilian Uchtenhagen zur ersten Frau in den Bundesrat. Sondern Otto Stich, den die Bürgerlichen hinter Hubachers Rücken bearbeitet hatten.
Wie tief dieser Stachel in Hubachers Selbstverständnis sass, kommt in seinem Buch «Hubachers Blocher» (2014) zum Ausdruck. Seine Frau Gret habe bei Stich «unerbittlich» reagiert, schrieb er im Vorwort.
«Dass er die Wahl annahm, hat sie ihm nie verziehen», schrieb Hubacher. «Und wenn sie ‹dem Stich› im Coop-Gartencenter begegnete, demonstrierte sie grusslos ihr Missfallen. ‹Das musste sein›, deckelte sie mich auf die Frage: ‹War das nötig?›»
Hubacher wollte die SP aus Protest in die Opposition führen, doch die Mehrheit der Genossen wollte im Bundesrat bleiben. Schampar unbequem wolle die SP in Zukunft sein, betonte der Präsident danach. Das ist zum geflügelten Wort geworden, das auch SP-Präsident Christian Levrat schon benutzt hat.
Hubacher selbst war kein klassischer Intellektueller, sondern ein «intellektueller Autodidakt», wie Ringier-Kolumnist Frank A. Meyer schrieb. Nach einer Lehre als SBB-Stationsbeamter war Hubacher 19 Jahre lang als Generalsekretär des Basler Gewerkschaftsbundes tätig und wurde 1963 Chefredaktor der Basler Arbeiterzeitung.
Als Journalist gehörte er zur meinungsbildenden Schicht. «Für einen Politiker ist Journalismus die beste Schule», sagte er im Interview mit der «Schweiz am Wochenende». «Ich lernte zu formulieren, ein komplexes Problem einfach zu schildern.»
Das gelang ihm Zeit seines Lebens. «Echt, volksnah, schnörkellos» sei Hubacher gewesen, schrieb Bundesrat Alain Berset auf Twitter. «Er wurde gehört und verstanden.»
Es war sein Grossvater, der ihn mit einem Rat fürs Leben geprägt hatte: «Stell dir einen wichtigen Mann in Badehosen vor, er sieht dann nicht besser aus als du und ich.» Einen Rat, den Hubacher sein Leben lang beherzigte.
So hatte er auch keine Scheu vor Intellektuellen wie Max Frisch, den er gut kannte. Das geht aus dessen Buch «Schweiz ohne Armee? Ein Palaver» hervor. Darin zeigt Frisch auf, dass sich der SP-Präsident zur Landesverteidigung bekannte. Hubacher war gegen die Initiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) von 1989. Obwohl er die Armee verkleinern wollte und ihr kritisch gegenüberstand.
Helmut Hubacher sei Zeit seines Lebens ein Unruhestifter gewesen, analysiert Ringier-Kolumnist Frank A. Meyer. «Ich sehe Hubacher, den Unruhestifter, vor mir: Wie er, nahezu eins neunzig gross, durch die Wandelhalle des Parlaments schlendert, ja schlendert», hat er in einer Kolumne geschrieben. «Aufrecht, den Kopf hoch erhoben, eine elegante Erscheinung, bürgerlicher als alle Bürgerlichen, eben doch anders, deshalb verdächtig, aber immer Respekt gebietend.»
Helmut Hubacher wird nicht mehr im Parlament wandeln. Und er wird auch mit keiner Kolumne mehr Unruhe stiften.