Diplomatie
«Ich bereue nichts»: Aus der Haft in Belarus freigelassene Natallia Hersche ist auf Schweizer Boden gelandet

Die schweizerisch-weissrussische Doppelbürgerin Natallia Hersche sass siebzehn Monate in Haft in Belarus, weil sie gegen das Lukaschenko-Regime auf die Strasse gegangen war. Ihre Freilassung am Freitag kam überraschend. Aussenminister Ignazio Cassis verbucht einen diplomatischen Erfolg.

Kari Kälin und Nina Fargahi
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Natallia Hersche am Freitagabend bei ihrer Ankunft am Flughafen Zürich.

Natallia Hersche am Freitagabend bei ihrer Ankunft am Flughafen Zürich.

Die Stimmung ist beklemmend, als Natallia Hersche in den Pressesaal am Flughafen Zürich tritt. Was sie in den letzten 17 Monaten in weissrussischer Haft erlitten hat, steht ihr im Gesicht geschrieben. Dass sie am Freitagabend auf Schweizer Boden gelandet ist, löst bei Johannes Matyassy, dem stellvertretendem Staatssekretär im Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) einen «Stossseufzer der Erleichterung» aus, wie er sagt. Die Verhandlungen mit Weissrussland seien «langwierig, schwierig und intensiv» gewesen.

Nach der Wahlfarce im August 2020 in Weissrussland gab es für Natallia Hersche kein Halten mehr. Die schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin reiste von St. Gallen in ihre Heimat, um sich gegen das Regime von Langzeitdiktator Alexander Lukaschenko aufzulehnen.

Natallia Hersche während der Kundgebung gegen Lukaschenko kurz vor ihrer Verhaftung.

Natallia Hersche während der Kundgebung gegen Lukaschenko kurz vor ihrer Verhaftung.

Keystone

Als Hersche am 19. September 2020 bei einer Frauendemonstration in Minks verhaftet wurde, riss sie einem Polizisten die Sturmhaube vom Kopf. Ihren Protest bezahlte die zweifache Mutter teuer: Zweieinhalb Jahre Gefängnis wegen Widerstand gegen die Polizei. Hersche trat während der Haft mehrfach in einen Hungerstreik. Jetzt ist der Spuk vorbei. «Ich bereue nichts», sagte sie.

In die Freude mischt sich auch Kritik

Am Freitagmorgen überschlugen sich die Ereignisse. «Endlich!», twitterte Bundespräsident Ignazio Cassis aus der Coronaisolation. Der Aussenministerin garnierte seine Nachricht mit einem Bild von der Schweizer Vertretung in Minsk. Dort wurde Hersche von ihrem Bruder und der Botschafterin Christine Honegger Zolotukhin in Empfang genommen. Cassis liess via Aussendepartement mitteilen: «Es ist eine grosse Freude für meine Mitarbeitenden und mich, dass Natallia Hersche nach all den Bemühungen endlich frei ist und in die Schweiz zurückkehren kann.» Der FDP-Magistrat versicherte, die Schweiz werde sich weiter für die Freilassung von all denjenigen ein, welche wegen der Ausübung politischer und bürgerlicher Rechte verhaftet worden seien, einsetzen.

Das sind viele. Seit Sommer 2020 seien mehr als 40000 Regimegegner und -gegnerinnen verhaftet worden, mehr als 1000 Personen befänden sich aktuell als politisch Gefangene in Haft, sagt Lars Bünger. Er ist Vorstandsmitglied der Menschenrechtsorganisation Libereco, die unter anderem Gefangenpatenschaften für politisch Inhaftierte in Belarus organisiert. Bünger zeigte sich erfreut über Hersches Freilassung. Diese Nachricht habe ihn überrascht. In die Freude mischt sich indes auch Kritik an die Adresse des Aussendepartements. Er sei zwar dankbar, dass es sich für Hersche eingesetzt habe. «Ich finde es aber schade, dass es solange gedauert hat bis zum Durchbruch.» Bünger moniert, das Aussendepartement hätte mehr tun können als bloss die EU-Sanktionen gegen Belarus mittragen, zum Beispiel den Botschafter aus der Schweiz wegweisen.

Natallia Hersche erklärt nach ihrer Ankunft vor den Medien, dass es ihr gut gehe, sie werde sich aber medizinisch untersuchen lassen.

Keystone

Propaganda für Lukaschenko?

Einen weiterer Kritikpunkt gilt der helvetischen Diplomatie. Seit Februar wirkt Christine Honegger Zolotukhin als neue Botschafterin in der Hauptstadt Minks. Geplant ist, dass sie in den nächsten Wochen der weissrussischen Regierung – oder besser: Lukaschenko persönlich – das Beglaubigungsschreiben übergibt. Für Bünger ist klar: Mit dieser diplomatischen Geste verhilft die Schweiz dem Diktator, der Demonstrationen niederknüppeln lässt, zu politischer Legitimation, die er propagandistische ausschlachten könne. Ausser dem Vatikan habe seit Sommer 2020 kein Botschafter eines europäischen Landes das Beglaubigungsschreiben Lukaschenko übergeben. Der französische Botschafter, der sich geweigert hatte, sei aus dem Land verwiesen worden. Bünger sagt: «Die Übergabe des Beglaubigungsschreibens bedeutet faktisch, dass die Schweiz Lukaschenko als legitimen Präsidenten von Belarus anerkennt.» Bünger hofft, dass hinter Hersches Freilassung kein «schmutziger Deal» stecke: Freiheit für eine politische Gefangene mit politischer Anerkennung Lukaschenkos als Gegenleistung. Dass die Übergabe eines Beglaubigungsschreibens durchaus einen Bann brechen kann, offenbart das Beispiel Israels. Zuerst empfing Lukaschenko den Botschafter des Landes, danach liess er einen israelischen Bürger frei.

Das Aussendepartement kontert diese Kritik. «Dies bedeutet nicht, dass die Schweiz Lukaschenko als Staatsoberhaupt anerkennt», betonte Matyassy am Freitag. Die Schweiz anerkenne Staaten und nicht Regierungen. Und weiter: «Es gab keinen Deal.» Auch sonst seien keine Bedingungen gestellt worden, versichert das Aussendepartement. Die Schweiz werde ihr Engagement für Menschenrechte in Weissrussland fortführen.