Grosse Sprachdefizite und Rückstände in der Sprachentwicklung. Oder dann soziale Beeinträchtigung. Die Zahl der Sonderschülerinnen und Sonderschüler steigt. Wer nach Gründen fragt, muss sich mit Erklärungsversuchen zufriedengeben.
Karen Schärer
«In den nächsten Tagen schliessen wir die Anmeldungen für kommendes Schuljahr ab: Wir sind bereits zu über 100 Prozent ausgelastet.» Dies sagt Roland Fischer, Gesamtleiter des Schulheims St.Johann in Klingnau AG. Pech für diejenigen Kinder aus der Region, bei denen erst im Verlauf dieses Semesters deutlich wird, dass für sie eine Platzierung in einer Sonderschule angezeigt wäre. Die Situation ist für Fischer nicht neu: Seit einigen Jahren schon übertrifft die Nachfrage nach Plätzen in der Tagesschule St.Johann das Angebot bei weitem.
Was man in Klingnau erlebt, dürfte für grosse Teile der Schweiz sinnbildlich sein: Wie das Bundesamt für Statistik festhält, hat der Anteil der Schulkinder, die in einer Sonderschule oder -klasse unterrichtet werden, von 1990 bis heute zugenommen. So auch in den Kantonen Zürich, Aargau, Solothurn und Baselland. Die Sonderschulen sind voll ausgelastet. Die Schülerinnen und Schüler haben beispielsweise mit grossen Sprachdefiziten und Rückständen in der Sprachentwicklung zu kämpfen. Oder eine «erhebliche soziale Beeinträchtigung», etwa eine schwere Verhaltens- oder Entwicklungsstörung, ist diagnostiziert worden.
Auf die Frage, warum es immer mehr Sonderschüler gibt, ist keine eindeutige Antwort zu erhalten. Roland Fischer vom Schulheim St.Johann sieht einen Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise: «Möglicherweise sind die Belastungen, die Kinder beispielsweise mit Verhaltensauffälligkeiten mit sich bringen, in einer Situation des grossen Drucks für die Familien nicht mehr zu ertragen», mutmasst er.
Ehemalige Kleinklässler?
Die verschiedentlich geäusserte Vermutung, dass die Umstellung auf die integrative Schulung schuld sei am Anstieg der Sonderschülerinnen und -schüler, kann jedenfalls nur eine Teilerklärung sein. Dies zeigen die sich widersprechenden Einschätzungen aus verschiedenen Kantonen. Beim Kanton Aargau spricht man von Einzelfällen: «Die Auflösung der Kleinklasse hat in einzelnen Fällen dazu geführt, dass Kinder mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung oder mit einer Beeinträchtigung im Grenzbereich ‹Lernbehinderung› mit sozialer Auffälligkeit in grossen Klassen nicht mehr adäquat betreut werden können», heisst es in einer schriftlichen Antwort aus dem Bildungsdepartement.
«Im Kanton Baselland gibt es nach wie vor sehr viele Kleinklassen, und trotzdem hat die Zahl der Sonderschülerinnen und -schüler, wenn auch nur wenig, zugenommen», sagt René Broder von der Fachstelle für Sonderschulung, Jugend- und Behindertenhilfe beim Kanton Baselland und stellt damit einen Zusammenhang zwischen integrativer Schulung und grösserer Zahl Sonderschülerinnen und -schüler in Abrede.
In Solothurn wiederum gesteht man der integrativen Schulung einen gewissen Einfluss zu: «Bis anhin haben Eltern manchmal die Augen vor einer möglichen Behinderung ihres Kindes verschlossen, damit es nur nicht in eine entfernte Sonderschule gehen muss», sagt Kurt Rufer vom Amt für Volksschule und Kindergarten beim Kanton Solothurn. Dank der integrativen Schulung könnten nun Kinder mit Behinderungen mit Unterstützung von Sonderschullehrkräften die Schule im Dorf besuchen. Der Entscheid, ob ein Kind mit Recht auf Sonderschulung integrativ (in der Regelschule) oder separativ (in einer Sonderschule) geschult werden soll, wird im Einzelfall durch die kantonale Behörde geprüft.