Die Schweiz und Deutschland als schwesterliche Partnerinnen: So umschrieb Simonetta Sommaruga beim Besuch von Angela Merkel das Verhältnis zum Nachbarland. Wer jedoch Zugeständnisse im Zuwanderungsstreit mit der EU erwartet hatte, wurde enttäuscht.
Es ist bewölkt, als Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern kurz vor Mittag in der Berner Altstadt aus ihrer Limousine steigt. Wegen eines Beach-Volleyball-Turniers kann die Schweizer Landesregierung die deutsche Regierungschefin nicht auf dem Bundesplatz empfangen. Stattdessen begrüsst Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga Merkel auf dem Münsterplatz. Die etwas weniger glamouröse Kulisse ist nicht unpassend: Das Verhältnis zwischen den zwei Nachbarländern ist abgekühlt. Der ungelöste Streit um Fluglärm über Süddeutschland, vor allem aber die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative belasten die Atmosphäre.
Sommaruga und Merkel schreiten die Ehrenformation der Armee ab. Ein Privileg, das sonst nur Staatsoberhäuptern vorbehalten ist – im Fall von Deutschland ist das nicht die Bundeskanzlerin, sondern Bundespräsident Joachim Gauck. Etwas abseits warten Aussenminister Didier Burkhalter, Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann und Verkehrsministerin Doris Leuthard, bis auch sie der mutmasslich mächtigsten Frau der Welt die Hand schütteln können.
Die Begrüssungszeremonie dauert eine Viertelstunde. Dann begeben sich Sommaruga und Merkel für ein halbstündiges Vier-Augen-Gespräch ins Von-Wattenwyl-Haus. Beim anschliessenden Arbeitsmittagessen sind die Bundesräte Burkhalter, Schneider-Ammann und Leuthard wieder dabei. Die Gesprächsthemen: die Beziehungen der Schweiz zu Brüssel, der Ukraine-Konflikt, der Fluglärm und die europäische Flüchtlingskrise.
Um 14.30 Uhr treten die Politikerinnen im «Leuchtersaal» des Bernerhofs, dem Sitz des Finanzdepartements, vor die Presse. Der Auftritt wird in der Schweiz mit Spannung erwartet: Sichert die Bundeskanzlerin dem Bundesrat beim Zuwanderungsstreit mit der EU ihre Hilfe zu? Stellt sie sogar Zugeständnisse in Aussicht?
Sommaruga spricht zuerst. Sie bezeichnet Deutschland als «Nachbar», «Partner», «Freund» und als «grossen Bruder», gegenüber dem man «nicht immer nur freundschaftliche Gefühle hat», und schiebt nach: «Am heutigen Tag sind die Schweiz und die Bundesrepublik Deutschland Schwestern.» Eine Anspielung darauf, dass zwei Frauen am Rednerpult stehen. Zwei Schwestern, die sich an diesem Tag nichts schenken. In der wichtigen Frage der Personenfreizügigkeit, das wird schnell klar, sind sich die Schweizer und die deutsche Regierung keinen Millimeter näher gekommen: Merkel beschreibt die Gespräche mit Sommaruga als «schwesterlichen Disput». Ein Disput, bei dem Deutschland der kleinen Schweiz nicht den Hauch eines Zugeständnisses macht. Die Bundeskanzlerin sagt mehrmals, ihre Regierung werde die Gespräche zwischen Bern und Brüssel «konstruktiv begleiten» und dass sie der Schweiz «viel Erfolg» wünsche.
Doch als sie ein Schweizer Journalist auf die Möglichkeit einer Schutzklausel zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative anspricht, blockt sie ab: «Ich werde mich nicht zu einzelnen Vorschlägen äussern.» Und flüchtet sich wieder ins Oberflächliche: «Persönlich» habe sie immer wieder die Erfahrung gemacht, dass bei vielen Situationen, die anfangs unlösbar schienen, Lösungen gefunden worden seien. Sommaruga, die neben ihr steht, presst die Lippen zusammen. Die Schweizer Bundespräsidentin sieht überhaupt nicht glücklich aus.
Eine halbe Stunde später nimmt Merkel an der Universität Bern die Ehrendoktorwürde für ihren Einsatz gegen den Klimawandel entgegen. Sechs Jahre, nachdem ihr der Titel verliehen worden ist. Die Aula ist bis auf den letzten Platz gefüllt, die Luft stickig.
Schon bei der Begrüssung kommt der sichtlich nervöse Rektor Martin Täuber auf die EU zu sprechen und betont, wie wichtig eine Beilegung des Konflikts für den Forschungsplatz Schweiz sei. Merkel blockt erneut ab. In ihrer Rede spricht sie das Thema zwar an, bleibt aber vage, und sagt reihenweise Sätze wie: «Dieser Dialog sollte in grosser Offenheit geführt werden und im Willen, zu einem guten Ergebnis zu kommen.» Bei der anschliessenden Fragerunde bekommt sie dann doch noch einen Eindruck, wie präsent gerade ihre eigenen Landsleute in der Schweiz sind: Von gut einem halben Dutzend Fragen, die ihr gestellt werden, kommen nur zwei von Schweizer Studenten. Alles andere sind Deutsche.
Das einzige Thema, bei dem Sommaruga und Merkel an diesem Tag wirklich einer Meinung sind, ist die europäische Flüchtlingskrise: Die Bundespräsidentin bekräftigt den Willen der Schweiz, sich an den Bemühungen der EU zur Einführung eines Verteilschlüssels für Asylbewerber zu beteiligen. Und sie legt der Kanzlerin nahe, die Schweiz könne der EU ein Vorbild für «ein solidarischeres Asylwesen» sein. Das eidgenössische System garantiere einheitliche Verfahren, gemeinsame Standards und eine gemeinsame Bewältigung der Aufgaben.
Merkel nimmt den Ball dankbar auf: «Wir können von den Erfahrungen der Schweiz lernen.» Die beiden Länder teilten die gleichen Grundwerte. «Es ist offensichtlich, dass die europäische Asylpolitik nicht funktioniert. Sollen wir die Menschen nach Ungarn zurückschicken? Auf der anderen Seite ist klar, dass Menschen, die keinen Schutz brauchen, das Land auch wieder verlassen müssen.»
Noch vor 17 Uhr verlässt Merkel die Aula der Universität Bern und macht sich auf den Weg zum Flughafen. Fazit: Der Besuch hat etwas länger gedauert als ihre erste Reise nach Bern 2008. Die Stimmung war freundlich. Politisch ist man sich jedoch nicht näher gekommen.