Die Armee könnte Synergien mit der EU nutzen, sagt Politologe und ETH-Experte Andreas Wenger. Zudem bereitet sich die Schweiz auf eine Grippe-Pandemie vor. Diese Bedrohung soll aber nicht Thema im sicherheitspolitischen Bericht 2009 sein, der derzeit ausgearbeitet wird.
Christian Nünlist, Hans-Peter Wäfler
Herr Wenger, Sie haben Meinungen von Parteien, Experten und Bürgern zum sicherheitspolitischen Bericht 2009 ausgewertet. Was hat Sie überrascht?
Andreas Wenger: Die Bereitschaft von vielen Personen und Institutionen, sich aktiv am Prozess zu beteiligen. In den letzten Jahren schien mir das Interesse an der Sicherheitspolitik in Politik und Gesellschaft eher abzunehmen.
Woher kommt das neue Interesse?
Wenger: Es widerspiegelt, dass sich die Wahrnehmung der Bedrohungslage verschoben hat seit dem letzten sicherheitspolitischen Bericht von 1999. Konsens ist heute, dass die Bedrohungen vielfältiger geworden sind. Denken wir an die grossen Themen der letzten Jahre, an den Terrorismus, die Finanzkrise, den Irak, Afghanistan.
Und an Klimawandel, Grippepandemien, Gewalt im Alltag . . .
Wenger: . . . es ist aber umstritten, was alles zur Sicherheitspolitik gehört. Das hat man in den Anhörungen gemerkt. Vertreter der Polizei und der Kantone möchten den Begriff ausweiten um den Bereich der Alltagsgewalt. Ich halte das für problematisch. Und ich rate auch davon ab, Themen wie Klimawandel oder Pandemien zum Kernbereich der Sicherheitspolitik zu zählen.
Warum?
Wenger: Es wäre für die Politik sehr schwierig, Prioritäten zu setzen und konkrete Rollenverteilungen zwischen den sicherheitspolitischen Instrumenten und zwischen Bund und Kantonen vorzunehmen, wenn all diese Bereiche zur Sicherheitspolitik gehörten.
Was ist denn heute die grösste strategische Gefahr für die Schweiz?
Wenger: Es gibt nicht nur eine einzige Gefahr. Am gefährlichsten ist heute das Zusammenfallen von drei Trends. Erstens haben wir einen Krisenbogen von schwachen Staaten - vom Balkan über den Kaukasus und den Mittleren Osten bis nach Zentralasien. Die innerstaatlichen Konflikte in diesen Regionen werden zweitens oft überlagert von transnationalen Sicherheitsrisiken wie Terrorismus, organisierte Kriminalität oder nukleare Proliferation. Drittens sind wegen der Globalisierung neue Verwundbarkeiten aufgetreten, etwa in Kommunikationsnetzwerken und Nachschubkanälen für Energie. Aus der Kombination dieser Faktoren können strategische Bedrohungen entstehen, auch für die Schweiz.
Kann das zu Kriegen führen?
Wenger: Kriege zwischen Staaten sind heute selten. Bei den meisten Gewaltkonflikten handelt es sich um Bürgerkriege in instabilen Regionen. Militärische Auseinandersetzungen zwischen Grossmächten sind nicht sehr wahrscheinlich. Gerade das europäische Umfeld ist stabil, es droht der Schweiz keine direkte militärische Bedrohung.
Obwohl es einen Konsens gibt, dass die Bedrohungen vielfältiger geworden ist: Wie die Schweiz darauf reagieren soll, bleibt aber umstritten.
Wenger: Ja, mehrheitsfähig ist in der Schweiz weiterhin die Grundstrategie aus dem letzten sicherheitspolitischen Bericht, die auf Zusammenarbeit im Innern und nach aussen setzt.
Es gibt schlicht keine Alternativen.
Wenger: Nein. Die zwei Alternativen Sicherheit durch Integration in ein Bündnis, also ein Nato-Beitritt, oder ein Alleingang, also eine autarke Verteidigung, sind heute nicht konsensfähig.
Die Welt hat sich verändert, und die Strategie der Schweiz bleibt gleich?
Wenger: An der strategischen Marschrichtung will die Mehrheit der Schweizer tatsächlich nicht rütteln. Grosser Streitpunkt bleibt jedoch die konkrete Ausgestaltung der Kooperation, besonders, welche Rolle die Armee im Sicherheitsverbund spielen soll.
Warum ist die sicherheitspolitische Debatte noch so stark auf die Armee fokussiert, obwohl es nicht mehr allein um militärische Gefahren geht?
Wenger: Die grossen innenpolitischen Kontroversen kreisten in den letzten Jahren meist um die Rolle der Armee. Persönlich glaube ich aber, dass etwa die Aussenpolitik seit 1990 deutlich an Bedeutung gewonnen hat, denken wir an die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts, an die Abrüstungspolitik, an die zivile Friedensförderung. Das sind wichtige Beiträge auch für die Sicherheitspolitik.
Warum wird von der Schweizer Armee immer noch verlangt, dass sie eine Militärinvasion im grossen Stil abwehren können muss, statt dass sie sich wie andere europäische Armeen auf internationale Einsätze zur Friedenssicherung konzentriert?
Wenger: Die Unterschiede zur Ausrichtung der Armeen anderer Kleinstaaten hängen stark damit zusammen, dass die Schweiz nicht Mitglied der Nato und der EU ist und über eine Milizarmee und keine Profiarmee verfügt. Für ein EU-Mitglied macht es Sinn, Ressourcen zu bündeln und im europäischen Kontext zu denken. Das sollte auch die Schweiz vermehrt tun, auch im Bereich der Armee, nicht nur im Bereich der Justiz- und Polizeizusammenarbeit. Auch als Nicht-EU-Mitglied kann man von Effizienz- und Synergiegewinnen profitieren, etwa im Rüstungsbereich.
Der Bundesrat beschloss vor einem Jahr, einen neuen sicherheitspolitischen Bericht zu erstellen. Diesen Frühling fanden Anhörungen von 45 Organisationen und Experten statt. Auf der Internetseite www.sipol09.ethz.ch war bis im Juni ein Forum für Kommentare geöffnet. Bis Ende August soll nun das Verteidigungsdepartement (VBS) von Bundesrat Ueli Maurer, unter Beizug von Mitarbeitern aus anderen Departementen und Vertretern der Kantonen, einen Entwurf des Papiers erstellen; Projektleiter ist Christian Catrina, Chef Sicherheitspolitik im VBS. Geplant ist, dass der Bundesrat im Dezember den sicherheitspolitischen Bericht 2009 verabschiedet und zur Kenntnisnahme ans Parlament schickt. Die Räte werden 2010 darüber diskutieren. (waf)
Wir sprechen über Sicherheitspolitik, aber das Wort Neutralität haben Sie bisher noch nicht erwähnt. Zufall?
Wenger: Die Hearings haben gezeigt, wie schwierig es ist, über die sicherheitspolitische Bedeutung der Neutralität eine sinnvolle Diskussion zu führen. Angesichts der Globalisierung und der Gefahrenlage kann sie keinen umfassenden Orientierungsrahmen mehr bieten für die Aussen- und Sicherheitspolitik. Gleichwohl will eine grosse Mehrheit der Bevölkerung klar an der Neutralität festhalten, dies in erster Linie aufgrund ihrer stark identitätsstiftenden Funktion. Ihre grosse Popularität erklärt auch, wieso sie von der Politik von links bis rechts gerne instrumentalisiert wird.
Wie?
Wenger: Die einen sagen, wir sollten in internationalen Konflikten vermitteln - gerade, weil wir neutral sind. Andere sagen, weil wir neutral sind, sollten wir zu politischen Konflikten nicht Stellung nehmen. Es geht um die Deutungshoheit der Neutralität. Das verdeckt eine sachliche Auseinandersetzung darüber, wie sich die Schweiz positionieren soll - als Kleinstaat von beschränktem politischem Gewicht inmitten Europas und als finanz- und wirtschaftspolitische Mittelmacht in der Welt. Es wäre sinnvoll, sich mit diesen Positionierungsfragen aktiv auseinanderzusetzen.
Solange das nicht passiert: Was bringt der neue sicherheitspolitische Bericht?
Wenger: Es darf nicht erwartet werden, dass der Bericht alle Probleme lösen kann. Er kann aber ein Schritt sein in einem Prozess. Deshalb bin ich dafür, dass man künftig alle vier Jahre den sicherheitspolitischen Bericht überprüft - und sich regelmässig mit strategischen Fragen auseinandersetzt.
Welche Messlatte legen Sie selber an den sicherheitspolitischen Bericht, den der Bundesrat jetzt ausarbeitet?
Wenger: Eine Frage wird meiner Meinung nach ganz zentral über Erfolg oder Misserfolg des Berichts entscheiden: Der Bericht muss wieder eine tragfähige Basis für die Konsolidierung und Weiterentwicklung der Armee legen - und so wieder Vertrauen in die Armee schaffen.