Die Hausärzte sehen schwarz und warnen vor einer Versorgungslücke mangels Nachfolgern. Der Beruf des Hausarztes sei für Junge nicht mehr attraktiv, sagt Marc Müller, Präsident der Hausärztevereinigung.
Denise Battaglia
Grindelwald im Berner Oberland, am Fuss des Eigers gelegen, zählt 4500 Einwohner. Und drei Hausärzte. Einer von ihnen ist Marc Müller. Er arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis, zusammen mit der zweiten Hausärztin des Dorfes. Müller kümmert sich nicht nur um die Einheimischen und rund 10 000 Feriengäste. In der Skisaison wird der Röntgenapparat in der Praxis vor allem durch die Tagestouristen amortisiert. 15000 bis 20000 Wintersportler bevölkern dann pro Tag die Umgebung; Müller begutachtet vom Morgen bis zum späten Abend verletzte Handgelenke, Schultern, Knie und Rücken. Und: Steigt die Zahl der Menschen im Dorf, steigt auch die Zahl der Herzinfarkte und Grippefälle. Am schlimmsten seien jeweils Weihnachten, Neujahr und der Februar, sagt Müller – «ein Albtraum».
Jeden dritten Tag Notfalldienst
Heute hat Müller Notfalldienst. Er muss rund um die Uhr erreichbar sein. Weil es nur noch drei Hausärzte in Grindelwald gibt, hat er jeden dritten Tag Notfalldienst. Er arbeitet auch jedes dritte Wochenende samstags und sonntags. Vor zwei Jahren hat ein vierter Allgemeinmediziner in Grindelwald seine Praxis aufgegeben. Er konnte nicht ersetzt werden. Auch Müller weiss nicht, ob er in zehn Jahren, wenn er in den Ruhestand tritt, einen Nachfolger finden wird. «Hausarzt zu werden, ist für die Jungen von heute nicht attraktiv», sagt er. Zu viel Arbeitsstunden, zu wenig Anerkennung und – im Vergleich mit den Spezialisten – ein tiefer Lohn halte die Medizinstudenten davon ab, freiberuflich als Hausärzte tätig zu werden. In den letzten Jahren sei zudem auf dem Buckel der Hausärzte gespart worden, die Arbeitsbedingungen hätten sich verschlechtert. Der berühmte Tropfen auf den heissen Stein war die Herabsetzung der Labortaxe. «Ein Labor kann sich nicht mehr jeder Hausarzt leisten. Ein Labor gehört aber zur Grundausstattung einer jeden Hausarztpraxis», sagt Müller.
Hausärzte sehen rabenschwarz
Nach der Labor-Sparmassnahme – die noch Alt Bundesrat Pascal Couchepin durchsetzte – machten die Hausärzte mobil, Schlag auf Schlag: Am 1. April vor einem Jahr gingen sie auf die Strasse. Im September gründeten sie den Berufsverband Hausärzte Schweiz, der heute 6500 Mitglieder zählt und dem Marc Müller als Präsident vorsteht. Und heute reichen die Hausärzte die Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» ein. Darin fordern sie die Förderung der Hausarztmedizin und eine Besserstellung der Hausärzte. 200 000 Menschen – vor allem die Patienten der Hausärzte – haben das Begehren unterschrieben. Auch die schweizerische Ärztegesellschaft FMH unterstützt es.
Bis zum Jahr 2016 werde die Hälfte der heute praktizierenden Hausärzte in den Ruhestand treten, ihre Praxen verlassen, warnt Peter Tschudi, Professor am Institut für Hausarztmedizin an der Universität Basel und Präsident des Initiativkomitees eindringlich. Das hätten Studien seines Instituts ergeben. Bis zum Jahr 2021 erreiche dieser Anteil sogar 75 Prozent. Laut Tschudi braucht es in den nächsten elf Jahren über 4500 Hausärztinnen und Hausärzte, um den heutigen Versorgungsstand aufrechterhalten zu können. Doch nur rund 10 Prozent der Studenten in Basel wollten Hausärzte werden, viele nur Teilzeit arbeiten. Obwohl die Zahl der Hausärzte in den letzten Jahren stetig zugenommen hat (siehe unten), sieht Tschudi rabenschwarz: «Wir steuern geradewegs auf einen Notstand zu.» Es drohe eine «Zweiklassenmedizin», bei der nur noch die Privilegierten Zugang zu einer der wenigen Hausarztpraxen hätten.
80 Arbeitsstunden pro Woche
Marc Müller behandelt noch alle Patienten: Um elf Uhr mittags hat er bereits 13 Patientinnen und Patienten behandelt. Die meisten waren Einheimische und über 65 Jahre alt. Der erste kam um acht Uhr und klagte über unbestimmte Bauchschmerzen, befürchtete «etwas Schlimmes». Müller entnahm ihm Blut für die Laboruntersuchung. Eine 73-jährige Patientin mit sehr hohem Blutdruck und rasendem Puls liess er nach einem EKG und einem Bluttest mit Verdacht auf Angina Pectoris oder Herzinfarkt ins Spital Interlaken einweisen. Ein 70-Jähriger mit chronischer Bronchitis suchte ihn wegen einer Entzündung der oberen Luftwege auf. Ein 75-Jähriger führte dem Doktor seine neuen künstlichen Hüftgelenke vor. Nun ist die Ambulanz vorgefahren. Sie bringt auf einer fahrbaren Liege ein etwa 12-jähriges Mädchen in die Praxis. Es ist beim Skifahren verunfallt, hat Schmerzen im Rücken. Das Mädchen spricht Englisch. Marc Müller zieht ihm vorsichtig die Skischuhe von den Füssen, kitzelt es an den Fusssohlen. Das Mädchen bewegt die Füsse. Müller atmet auf.
Jeden Tag suchen zwischen 25 (Zwischensaison) und 45 Patienten Hilfe beim Grindelwalder Arzt, Hausbesuche nicht eingerechnet. Er arbeite pro Woche rund 80 Stunden, sagt der 55-Jährige. Trotzdem würde er den Beruf jederzeit wieder ergreifen. «Ich habe mir nie etwas anderes gewünscht, als Hausarzt zu sein.» Er begreife aber, wenn die Jungen heute nicht mehr so viel arbeiten wollten. «Um mich dereinst zu ersetzen, braucht es zwei Hausärzte.» Und falls nicht alle Hausärzte ersetzt werden können? «Dann müssen sich die Patienten an längere Wartezeiten und längere Fahrdistanzen gewöhnen.»