Gerichtspräsident Marc Gmünder hat im Fall «Carlos» Mut für eine kreative Lösung gezeigt. Jetzt steht er vor einem schwierigen Urteil.
Marc Gmünder hat diese Woche etwas getan, was vor ihm noch kein Richter in der Schweiz gewagt hat. Weil der Angeklagte Brian K. alias Carlos nicht zu ihm kam, fuhr er ins Gefängnis. Eine Umfrage unter Richtern ergibt: Niemand kann sich daran erinnern, dass es ein Häftling je geschafft hat, sich mit Gewalt einem Transport ans Gericht zu widersetzen. Dass der Richter in dieser einzigartigen Situation dann den Mut für eine kreative Lösung hatte, löst unter Kollegen Bewunderung aus.
Normalerweise macht ein Richter nur, was in der Strafprozessordnung steht. Für diese Konstellation gab es aber keine Anleitung. Gmünder begab sich auf juristisches Glatteis. Wäre es zu einer Eskalation gekommen, wäre der FDP-Mann vielleicht als naiver Kuschelrichter dagestanden.
Gmünders Instinkt war allerdings richtig: Der Auftritt des 50-Jährigen mit der roten Krawatte, der viereckigen Brille und den Lachfältchen hatte auf Brian K. eine andere Wirkung als der Aufmarsch der Sondereinheit Diamant der Zürcher Kantonspolizei. Zwar konnte auch er den Serien-Täter nicht dazu bewegen, seine Zelle zu verlassen. Aber es gelang ihm, eine halbe Stunde lang ruhig mit ihm zu reden. Damit hat er an einem Morgen mehr erreicht als der Psychiater, der sein Gutachten erstellt hat, ohne sein Studienobjekt je persönlich gesehen zu haben. Die Diagnose lautete: «Dissoziale Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägten psychopathischen Wesenszügen.»
Marianne Heer, Oberrichterin von Luzern, sagt:
Ich habe grosse Hochachtung für einen Richter, der sich so engagiert für einen Fall. Es wäre höchst unbefriedigend, eine Sanktion von so grossem Gewicht zu beurteilen, ohne den Angeklagten je gesehen zu haben.
Peter Albrecht, ehemaliger Strafgerichtspräsident von Basel-Stadt, sagt: «Oft denkt man: Die haben das Urteil eh schon gefällt. Es ist ein Anzeichen, dass ein Richter einen Fall ernst nimmt, wenn er alles unternimmt, um den Beschuldigten in den Gerichtssaal zu bringen.»
Ein Richter eines anderen Kantons sagt: «Der Fall ‹Carlos› hat wie der Fall Rupperswil eine Dimension, die wenig mit den normalen Abläufen des Gerichtsalltags zu tun hat. Ein aussergewöhnlicher Fall braucht ein aussergewöhnliches Vorgehen.»
Gmünder hat den Extremfall nicht gesucht. Er arbeitet seit 24 Jahren am Bezirksgericht Dielsdorf, seit zwei Jahren als Präsident. Normalerweise passiert im Bezirk nicht viel und so beurteilt er sonst Velounfälle, Stockwerkeigentumskonflikte und Familienstreitigkeiten. Doch in Gmünders Einzugsgebiet liegt auch das grösste Gefängnis der Schweiz, die Justizvollzugsanstalt Pöschwies. Hier hat Brian K. gemäss Anklage Aufseher und Insassen verprügelt.
Es ist allerdings schon einmal vorgekommen, dass das Dielsdorfer Bezirksgericht einen Fall von nationaler Bedeutung zu beurteilen hatte. 2006 führte es den Pitbull-Prozess durch. Es ging um den Tod des sechsjährigen Süleyman, der auf dem Weg in den Kindergarten von drei Pitbulls angegriffen worden war. Richter Gmünder übernahm damals das Amt des ausserordentlichen Medienbeauftragten.
Es war der erste Fall in der Geschichte des Bezirksgerichts, der im kleinen Gerichtsgebäude von Dielsdorf keinen Platz gehabt hätte und deshalb nach Zürich verlegt wurde. Gmünder gelang es, den medialen Rummel in geordnete Bahnen zu lenken. Der Fall «Carlos» ist nun der zweite Fall, den Gmünder im Stadtzürcher Exil durchführt.
In seiner Karriere hat Gmünder aber auch die Erfahrung gemacht, wie es ist, gegen die Medien zu kämpfen und zu verlieren. In seinem Nebenamt als Untersuchungsrichter am Militärgericht 6 ging er 2006 gegen Journalisten des «SonntagsBlick» vor. Diese hatten ein vom Schweizer Nachrichtendienst abgefangenes Fax über geheime CIA-Gefängnisse in Europa veröffentlicht und wurden wegen der Verletzung von Militärgeheimnissen angeklagt. Gmünders Ermittlungen scheiterten, das Verfahren endete mit Freisprüchen.
Damals ging Gmünder strikt nach Lehrbuch vor und machte sich damit lächerlich. Im Fall «Carlos» hat er nun bewiesen, dass er den Mut für eine kreative Lösung hat. Dieser ist nun auch für das Urteil gefragt, das er am kommenden Mittwoch verkünden wird. In der Hauptverhandlung hatte weder der Verteidiger noch der Ankläger einen Vorschlag, wie Brian K. wirklich geholfen werden könnte. Das Strafgesetzbuch liefert dafür kein Rezept. Schafft Gmünder das Unmögliche?