Mauerfall
Der Kniefall in Warschau

Die Erinnerung an die Szene rührt viele ältere Deutsche noch heute zu Tränen: Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) legt am 7. Dezember 1970 in Warschau am Mahnmal für den Getto-Aufstand (1943) einen Kranz nieder und fällt dann plötzlich auf die Knie. Etwa eine halbe Minute lang verharrt er so, mit starrem Gesicht. «Unter der Last der jüngsten Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Worte versagen; so gedachte ich der Millionen Ermordeter», sagte er später.

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Willy Brandt

Willy Brandt

Keystone

Dagmar Heuberger

Die Geste von Warschau wurde zum Symbol der neuen Ostpolitik der sozial-liberalen Regierung, so wie wenige Woche zuvor der Moskauer Vertrag Modell und Grundlage für die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn war. Deutschland und die Sowjetunion garantierten sich mit diesem Vertragswerk den gegenseitigen Verzicht auf Gewalt und Gebietsansprüche. Mehr noch: Die Bundesrepublik anerkannte auch erstmals die Existenz der DDR.

Brandts Bemühen um Koexistenz mit der DDR geht freilich weiter zurück: Nachdem er 1961 als Regierender Bürgermeister von Berlin (1957-1966) den Bau der Mauer in seiner Stadt erleben musste, war es sein vorrangiges Ziel, die Folgen der Teilung für die Berliner erträglicher zu machen. Ein erster grosser Erfolg dieser «Politik der Kontakte und kleinen Schritte» war das Passagierscheinabkommen: Zu Weihnachten 1963 durften Westberliner erstmals wieder ihre Verwandten in Ostberlin besuchen.

Buch- und Webtipps Arne Hofmann, The Emergence of Détente in Europe: Brandt, Kennedy and the Formation of Ostpolitik (Routledge, 2007). Die beste Studie zur "frühen Ostpolitik" von Brandt und Kennedy. TV-Dokumentation (Phoenix) über das Jahr 1970 und den Kniefall von WarschauHier klicken für Video

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Auch als Aussenminister der Grossen Koalition (1966-1969) unter Kurt Georg Kiesinger war es Brandts Ziel, die drohende Isolierung der Bundesrepublik in Ost und West zu verhindern. Die Einsicht, dass die Teilung Deutschlands untrennbar mit der Teilung Europas verbunden war und diese Spaltung nur durch Entspannung überwunden werden konnte, bildete die Grundlage von Brandts Konzept einer europäischen Friedensordnung. Zusammenarbeit der Staaten, Abbau und Überwindung der militärischen Konfrontation und Verständigung der Völker waren die Instrumente dieser Aussenpolitik. Und Brandt, der aufgrund seiner Biografie für das Ausland das antifaschistische Deutschland verkörperte und hoch angesehen war, verstand es, sie durch geschicktes Auftreten umzusetzen.

Brandt war Realist genug zu wissen, dass in den Jahren des Kalten Krieges nicht an eine Wiedervereinigung Deutschlands zu denken war. «Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass eine Wiedervereinigung im ursprünglichen Sinne nicht mehr möglich ist», sagte er 1969 in einem Interview. 20 Jahre später war es ihm doch noch vergönnt, den Fall der Berliner Mauer zu erleben. Sein Satz, «Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört», wurde sprichwörtlich. Brandt starb 1992 an Krebs.

Wir erinnern mit einer 15-teiligen Artikelserie an das "andere 9/11" - an den 9.11.1989 und stellen 15 Wegbereiter des Wende- und Wunderjahrs 1989 vor - politische Akteure, die unserer Meinung nach einen zentralen Beitrag geleistet haben, dass der Kalte Krieg nach 45 Jahren zu Ende ging - und zwar auf die Art und Weise zu Ende ging, wie er zu Ende ging, nämlich weitgehend friedlich und ohne Blutvergiessen.