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Schweiz
In der ganzen Schweiz sind Zehntausende von Frauen – und auch viele Männer – auf die Strasse gegangen, um für Gleichberechtigung zu demonstrieren. Während sich der Frauenstreik von 1991 auf die grossen Städte konzentrierte, gab es 2019 auch unzählige Aktionen auf dem Land. Und: Diesmal machten sogar Bundesrätinnen mit.
Von Benedikt Lachenmeier
Die links regierte Grossstadt Basel war einer der Hotspots des Frauenstreiks. Schon um sieben Uhr morgens versammelten sich Frauen und Männer auf dem Petersplatz für die erste Streikaktion des Tages. «Ein Streik heisst Stillstand. Blockade. Er setzt die Routine für einen Moment aus und zeigt, dass, wenn wir nicht wollen, nichts mehr geht», kündigt eine Sprecherin an. Während zweier Stunden wollen die Demonstrierenden die dicht befahrene Kreuzung beim Spalentor sperren. Innerhalb von wenigen Minuten ist die Strasse schliesslich unter ihrer Kontrolle. Manche Autofahrer sind verärgert, die Polizei hingegen nimmt die Aktion gelassen. Nur ein Fahrzeug steht am bewölkten Morgen des 14. Juni 2019 im Einsatz. Das Blaulicht ist ausgeschaltet.
Um elf Uhr legen etliche Frauen als Protest die Arbeit nieder. Zur selben Zeit nehmen ein paar Männer ihre Tätigkeit auf – in der extra für den Frauenstreik eingerichteten Kinderkrippe im Unternehmen Mitte. Damit auch die Mütter für ihre Rechte auf die Strasse gehen können. «Ich finde, wir Männer können einen Tag lang im Hintergrund bleiben», erklärt ein Betreuer während er mit einem kleinen Mädchen ein Fahrzeug aus Legosteinen zusammenbaut. «Heute stehen die Frauen im Mittelpunkt. Wir solidarisieren uns.»
Solidarisch verhalten sich auch die 4.-Klässler des Gymnasiums am Münsterplatz gegenüber ihren Mitschülerinnen mit der Aktion «Open Mic». Gemeinsam machen sie auf eine Ungerechtigkeit aufmerksam. Die 16-jährige Anna hat sich zwei Tampons als Ohrringe umgehängt. «Tampons sind viel zu teuer. Die hohe Mehrwertsteuer von 7,7 Prozent ist mega unfair», sagt die Gymnasiastin. Dieser Meinung ist auch ihr Schulkollege. «Umso mehr, als Frauen rund 20 Prozent weniger verdienen als Männer.» Ein Grund für den 17-Jährigen, am Frauenstreik teilzunehmen. «Wenn 50 Prozent der Leute nicht gleichberechtigt sind, können wir uns nicht eine liberale Gesellschaft nennen. Es ist wichtig, jetzt die Grundlage für die Zukunft zu schaffen.»
Punkt 13 Uhr ist auf dem Claraplatz der Tanz-Flashmob gegen häusliche Gewalt angesagt. Zwischen Passanten und an der Weiterfahrt verhinderten Trams zeigt eine Gruppe von Frauen eine perfekt eingeübte Choreografie. Auf der anderen Rheinseite machen sich Matthias und Peter vor der Hauptpost bereit für den «Spaziergang zu Protesten in Basel» des Vereins Frauenstadtrundgang Basel. Das Interesse an der Geschichte zum Frauenstimmrecht ist gross. Die beiden Studenten rufen mit unterhaltsamen Anekdoten in Erinnerung, dass die Basler Frauen seit 1966 stimm- und wahlberechtigt sind, und ehren unter anderem
die bekannte Wahlbaslerin Trudi Gerster für ihr politisches Engagement.
In der Zwischenzeit hat sich der Theaterplatz immer mehr gefüllt. Rund um den Fasnachts-Brunnen befindet sich das Zentrum des zweiten nationalen Frauenstreiktages in der Geschichte der Schweiz. Unter den Demonstrierenden ist auch eine 70-jährige Kommunikationstrainerin, die bereits am ersten Frauenstreiktag 1991 dabei war. Auf die Frage, was sich in den vergangenen knapp 30 Jahren verbessert hat, antwortet sie: «Wir haben mehr Frauen in der Politik und an beruflich relevanten Stellen. Aber es sind bei weitem nicht genug. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass es keine Frauenstreiks mehr geben muss. Um sagen zu können, wir haben alles erreicht.»
Von Claudio Weder
Erst dreissig Jahre ist es her, seit die Männer in Appenzell Ausserrhoden den Frauen das Stimmrecht gaben. Und zwar hier, auf dem Landsgemeindeplatz in Trogen. Nun haben sich auf diesem Platz rund 200 Frauen versammelt. Keine Fäuste ragen in die Luft, keine Sprechchöre sind zu hören, die Transparente sind sachlich gehalten. Das Megafon, mit dem Frauen unterschiedlichster Generationen ihre Anliegen kundtun, dringt akustisch kaum bis zur letzten Reihe durch. Etwas verhalten wird das «Ciao Bella» angestimmt. Und auch die Buhrufe und Rasselklänge, die zwischen den einzelnen Reden ertönen und das Vorgetragene akustisch untermauern, machen deutlich, dass hier, auf dem Landsgemeindeplatz in Trogen, erst das Warm-up stattfindet, bevor sich das Grüppchen seiner «grossen Schwester» in St. Gallen anschliessen wird.
Brav sind die Ausserrhoderinnen – aber unmissverständlich ihre Botschaften: «Jetzt Gleichstellung für unsere Töchter und Enkelinnen», prangt auf einem der violetten Transparente. «Jede Arbeit ist wichtig und verdient Respekt», fordert ein anderes. Aufgerufen zur Kundgebung hat ein zwölfköpfiges kantonales Komitee. 200 Frauen aus sämtlichen Gemeinden – vereinzelt waren auch Männer dabei – konnte dieses mobilisieren. Eine beachtliche Zahl, wenn man bedenkt, dass vonseiten des OKs im Vorfeld doch einiges an Überzeugungsarbeit gefragt war. Annegret Wigger, SP-Kantonsrätin aus Heiden und Initiantin der Kundgebung in Trogen, sagt: «Viele Ausserrhoderinnen, die schon beim Streik 1991 dabei waren, waren am Anfang skeptisch gegenüber der Idee, eine eigene Kundgebung im Kanton zu organisieren.»
Dass für diese gerade der Landsgemeindeplatz in Trogen als Austragungsort gewählt wurde, war kein Zufall. Er bildet das Zentrum des 1700-Seelen-Dorfes und ist ein geschichtsträchtiger Ort. So wird der zentrale Platz zum einen von den Palästen der Zellweger – einer namhaften Appenzeller Textilhandelsfamilie – umsäumt. Und dann ist da noch diese politische Besonderheit, die dem Platz seinen Namen gab: Bis ins Jahr 1997 war es auch im Kanton Appenzell Ausserrhoden gang und gäbe, dass sich das Stimmvolk einmal pro Jahr
zur Landsgemeinde versammelte. Allerdings war es bis zur denkwürdigen Landsgemeinde im Jahr 1989 in Hundwil, bei welcher Ausserrhoden als zweitletzter Schweizer Kanton das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene einführte (danach kam Innerrhoden), nur den Männern erlaubt, in den sogenannten «Ring» zu treten. Erst 1990, an der Landsgemeinde in Trogen, war dies auch den Ausserrhoder Frauen zum ersten Mal erlaubt.
Dass das Jahr des zweiten Frauenstreiks mit dem 30-jährigen Bestehen des Frauenstimmrechts in Ausserrhoden zusammenfällt, war Grund genug, eine eigene Kundgebung auf die Beine zu stellen. Vieles konnte seit dem letzten Streik im Jahr 1991 inzwischen erreicht werden. Und auch die jüngsten Entwicklungen stimmen positiv: Im Kantonsrat sitzen so viele Frauen wie noch nie zuvor. Mit einem Frauenanteil von 34 Prozent schliesst Ausserrhodens Parlament sogar zu den Schweizer Spitzenreitern auf. «Dennoch sind wir noch lange nicht am Ziel», schallt es über den Trogener Landsgemeindeplatz. Das Motto der Kundgebung – «Macht vorwärts, Frauen» – spricht dabei ebenso Klartext wie die zahlreichen Forderungen, die aus dem Megafon tönen.
In Zürich wurden mehrere Zehntausend Streikende gezählt. Einige besetzten unter dem Motto «Fraulenzen» den Central-Platz vis-à-vis dem Hauptbahnhof. Statt Trams und Autos prägten Aktivistinnen mit violetten Fahnen und Transparenten den Verkehrsknotenpunkt. Auf einem Transparent, das quer über Fahrbahn und Tramgleise gespannt wurde, hiess es: «Wenn Frau will, steht alles still.» Bereits um Mitternacht starteten die ersten Aktionen. So wurde an verschiedenen Orten der Verkehr blockiert und ein feministischer Autokorso mit laut Angaben der Veranstalter 40 Autos fuhr hupend durch die Innenstadt. Wegen der vielen dezentralen Aktionen (Protestchöre, Menschenkette ) ist es schwierig, eine Angabe über die Teilnehmerinnenzahl zu nennen. Eine Streik-Sprecherin sagte, es seien «mindestens gleich viele Frauen wie 1991 unterwegs». An die Demonstration am Abend kamen noch einmal mehrere zehntausend Frauen und Sympathisanten. (chm)
Lange bevor die Sitzung der Nationalrätinnen im Bundeshaus startete, protestierten am Freitag die Frauen am Bahnhof, in der Altstadt und in Quartieren – und versammelten sich um 11 Uhr auf dem Bundesplatz zum Streik. Zu jenem Zeitpunkt legten auch die Politikerinnen ihre Arbeit nieder und defilierten durch die Masse der Streikerinnen: Ein Konzert von Trillerpfeifen, Pfannendeckeln und Zurufen begleitete die gefeierten Politikerinnen, unter ihnen auch Bundesrätin Viola Amherd und Nationalratspräsidentin Marina Carobbio (beide in violetter Bluse). Doch Reden schwangen nicht die Politikerinnen, sondern Aktivistinnen. Care-Arbeiterinnen, Kulturschaffende, Bäuerinnen, Schülerinnen und Mütter – sie waren gekommen, um mehr Rechte einzufordern. Aber nicht nur: Sie demonstrierten Zusammenhalt, sangen, marschierten und nähten ein Weltentuch: Das Verbindende stand im Vordergrund. Die Organisatorinnen sprachen von 35'000 Teilnehmenden. (wan)
Aufrecht, stramm, eisern. So steht er dort, der Ritter auf der Dachspitze und schaut ins Stadtluzerner Umland. Er gibt ihm seinen Namen, dem Männliturm. Und er gehört seit dem Mittelalter zur Stadtbefestigung, der Museggmauer. Die Mauer mit ihren neun Türmen ist so bekannt wie der Wasserturm in der Mitte der Kapellbrücke.
Zumindest in Luzern. Bei aller Wehrhaftigkeit hatte das wackere Männli am Freitag eine Attacke zu überstehen, die es so noch nie gab. Aktivistinnen hängten ihm kurzerhand ein Transparent um: «Frauen höher hinaus», steht in grossen Lettern auf weissem Tuch.
So frech-originell die Aktion hoch oben über den Dächern Luzerns, so bunt, schrill, laut und agitatorisch gings auch unten im Zentrum zu. Auf dem Theaterplatz versammelten sich zu Spitzenzeiten gut 3000 Frauen und Männer, die durch die Altstadt zogen und für die Gleichstellung kämpften. (jem/kük)
Das höchste Gebäude der Schweiz fällt so oder so auf. Doch in der Nacht auf Freitag zog der Roche-Turm in Basel weit mehr Blicke als sonst auf sich. Zeitgleich mit der Dämmerung wurde ein überdimensioniertes Logo des Frauenstreik-Tags an die Fassade des Turms projiziert. Die Gewerkschaft Unia hat die Aktion für sich beansprucht.
Mit der Projektion wurde der Roche-Turm selbst für die Bewohner der Stadt plötzlich wieder zum Fotosujet. Noch zu später Stunde hielten sogar Autofahrer auf der gegenüberliegenden Seite des Rheinufers an, um rasch ein Foto mit dem Handy zu knipsen. Roche reagiert gelassen auf die Aktion. Der Konzern wollte dazu keine Stellung, er wusste im Vorfeld nichts von der Aktion. Gleichwohl liess es sich die Firma nicht nehmen, über Twitter ihr Engagement zur Frauenförderung aktiv zu promoten. «Die Chancengleichheit der Geschlechter ist ein wichtiger Teil unserer Verpflichtung zur Förderung der Vielfalt», heisst es da in wohlklingendem PR-Sprech. Schlussresultat: Unia – Roche 3:1 (mka)
Im Kanton Aargau zog es viele Frauen nach Aarau, wo die grösste Demonstration in der Region zum Frauenstreik stattfand. Aber auch in anderen Aargauer Städten wie in Baden (Bild) versammelten sich Hunderte von Frauen (und auch einige Männer), um ihre Rechte einzufordern. Im Gegensatz zu Grossstädten wie Zürich oder Bern haben grössere Kundgebungen hier eher Seltenheitswert. «Unglaublich, die ganze Rathausgasse ist voll», sagte Connie Fauver, Co-Präsidentin von Frauen Aargau und Mitorganisatorin des Frauenstreiks in Baden. Offenbar hatte kaum jemand mit den 400 bis 500 Teilnehmerinnen gerechnet. Jedenfalls war kein Mikrofon zur Stelle, als vor dem Badener Stadthaus um 11 Uhr das Manifest mit den zehn wichtigsten Forderungen Stadtammann Markus Schneider übergeben und jede einzelne vorgetragen wurde. Umso lautstarker waren nachher Applaus, Jubel beziehungsweise der Trillerpfeifen-Protest. Wer noch nicht genug hatte, zog weiter nach Aarau, wo gegen Abend die grosse Kundgebung wartete. (saw)