Pflege in Demenz-Abteilung
«Demente Menschen haben andere Prioritäten als ihr Erscheinungsbild»

Eine im Ständerat traktandierte Motion fordert die Vergleichbarkeit der Qualität von Pflege und Betreuung in Pflege- und Altersheimen. Eine Reportage über Menschenliebe und bleibende Berührungsängste auf einer Abteilung für Demente.

Daniel Fuchs, Ormalingen
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Im Hemd und mit einem Béret auf dem Kopf: Frühstück im Bett mit Herrn K. und seiner Pflegerin Marianne Müller.

Im Hemd und mit einem Béret auf dem Kopf: Frühstück im Bett mit Herrn K. und seiner Pflegerin Marianne Müller.

Alex Spichale

Frau F. ist nicht dement. Damit ist sie die Ausnahme, welche die Regel bestätigt: Von acht Frauen und einem Mann in einer der vier Wohngruppen für Demenzkranke im Zentrum Ergolz in Ormalingen (BL) ist sie die Einzige, die nicht an der Krankheit erkrankt ist, an der immer mehr Leute sterben werden. Frau F. leidet an Schizophrenie.

Fast ununterbrochen führt sie ein Gespräch mit sich selber: «Du musst hier und da ziehen und nicht drücken», sagt sie, als sie auf der Bettkante sitzend die Schuhe anzieht. Bei ihr im Zimmer: die 54-jährige Pflegefachfrau Marianne Müller, die geduldig wartet, bis Frau F. fertig ist. Dann reicht sie Frau F. eine Bluse. «Das ist eine Seidenbluse. Seide kühlt. Damit werde ich doch frösteln», wendet diese ein. «Schauen Sie nach draussen, Frau F., die Sonne scheint, heute wird ein schöner, ein warmer Tag», beruhigt sie Marianne Müller.

Doch Frau F. hat andere Sorgen: «Ich habe die Modeschau verpasst», sagt sie immer wieder bedauernd. Marianne Müller beruhigt weiter: «Sie haben sie doch gar nicht verpasst. Sie findet erst heute statt.» Die Modeschau – am Nachmittag ist eine Kleiderboutique zu Besuch im Zentrum Ergolz. Praktisch, denn so können die Senioren ohne viel Aufwand Kleider einkaufen. Praktisch ja, pflichtet Marianne Müller bei, auch wenn sie findet, dass es für die Bewohner ebenso schön sei, mit Angehörigen einen Besuch ins nahe Modegeschäft zu unternehmen.

Zuschauen, ohne zum Voyeur zu werden

Das Einzelzimmer von Frau F. ist geräumig. Neben einem integrierten Wandschrank und dem Spitalbett hat es Platz für persönliche Gegenstände: Antike Möbel, altmodische Kissen und Kreuze an den Wänden zieren das Zuhause der Bewohnerin. Marianne Müller begleitet die vif wirkende Frau F. ins Badezimmer, das ins Zimmer integriert ist, um sie mit Bodylotion einzureiben. Die Tube ist fast leer. «Wir müssen sie auf den Kopf stellen», sagt Müller. «Ich soll mich auf den Kopf stellen?», fragt Frau F. verwundert. Fröhliches Gekicher dringt aus dem Badezimmer.

Qualität vergleichbar machen

Heute ist im Ständerat eine Motion traktandiert, die eine Vergleichbarkeit der Qualität von Pflege und Betreuung in Pflege- und Altersheimen fordert. Die Motion der nationalrätlichen Gesundheitskommission stammt ursprünglich von Roland Borer, Solothurner SVP-Nationalrat. Interessant: Dieser handelte aus persönlicher Betroffenheit. Als seine Mutter auf einer Demenzabteilung behandelt wurde, stellte Borer grosse Qualitätsunterschiede zwischen Pflegeheimen fest, sogar innerhalb desselben Kantons. «Das kann doch nicht sein», dachte sich Borer, als eine Bekannte ihn über die Zustände in einem anderen Pflegeheim unterrichtete. «Während meine Mutter besonders gut umsorgt wurde, brachte man dort die Bewohner um fünf Uhr nachmittags ins Bett, Gatter hoch und fertig», erinnert sich Borer. Bemerkenswert: Der Solothurner scharte in seiner Kommission sämtliche Mitglieder von links bis rechts hinter sich. Der Nationalrat folgte der Kommissionsempfehlung mit grosser Mehrheit. Nicht zuletzt die Zahlen deuten darauf hin, wie viel die stationäre Pflege und deren Qualität künftig zu reden geben wird. Statistiker gehen von einer stark steigenden Nachfrage stationärer Pflegedienstleistungen aus. Besonders ins Gewicht fallen dürften die stark ansteigenden Demenzerkrankungen (vgl. beide Grafiken oben). Das Risiko, daran zu erkranken, steigt im Alter. Mit der demografischen Entwicklung wird der Bedarf an stationären Pflegeplätzen für Demente weiter ansteigen.(dfu)

Das Lachen ist verstummt. Frau F. sitzt wie drei weitere Bewohner still an einem Tisch und isst Frühstück. Es ist halb neun, Marianne Müller seit halb sieben da. Ich darf sie auf ihrer Schicht begleiten. Strahlend hat mir der Geschäftsführer des Zentrums Ergolz, Stephan Zbinden, am frühen Morgen das Pfleger-Outfit in die Hände gedrückt: eine blaue, bequeme Hose mit Elastikbund. Dazu ein grünes Poloshirt. «Wir wollen ja nicht, dass Sie zu viel Aufsehen erregen», erklärte Zbinden und stellte sich vor, dass ich Marianne Müller zur Hand gehen möge. Dachte er. Ich aber bin ziemlich blockiert und fühle mich beim blossen Herumstehen in den Zimmern als Eindringling in die Privatsphäre der Bewohner.

Marianne Müller blieb das nicht verborgen. Meine Anwesenheit würde die dementen Menschen nicht stören, versichert sie und verschont mich: Ich muss nicht helfen, darf beobachten.

Heute ist Müller Tagesverantwortliche in dieser Wohngruppe. Die Bewohner führen ihren gewohnten Tagesrhythmus fort. Morgens stehen sie auf und legen sich abends schlafen, wann sie wollen. Kaffee oder Tee gibt es auch von der Nachtwache.

Wut gehört auch dazu

Während die Bewohner frühstücken, kommt unter den drei Pflegefachfrauen gespannte Aufregung auf. Der einzige Mann auf der Abteilung, Herr K., schläft zwar noch, doch ist es an der Zeit, ihn aufzuwecken und ihn frisch zu machen. «Herr K. würde sonst einfach weiterschlafen», erklärt Müller. Sie betont: Kein Bewohner sei schwierig. Alle seien anders. Trotzdem spürt man: Herr K. mit seiner schweren Demenz fordert die Angestellten besonders. Im Zimmer schlägt uns ein strenger Geruch entgegen. Die Bewohner finden nicht auf die Toilette, werden aber regelmässig vom Pflegepersonal begleitet. Trotzdem tragen die Heimbewohner – im Pflege-Jargon – Inkontinenzeinlagen. Jene von Herrn K. haben sich mit Urin vollgesogen.

Das Bild ist skurril: Herr K. schläft tief und fest, angezogen mit Hemd und einem Béret auf dem kahlen Kopf. Marianne Müller weckt ihn sanft. Herr K. reagiert gereizt. Müller erzählt von einem Begrüssungsritual, zu dem es normalerweise kommt. Stirn an Stirn würden sie und Herr K. üblicherweise eine kurze Zeit dasitzen. Doch an diesem Tag will Herr K. nichts davon wissen. Er ist zornig. Marianne Müller hält vorsichtig Abstand.

Weil Herr K. keine Zähne mehr hat, hat sie ihm in Milch aufgeweichte Brotbrocken gebracht, garniert mit Konfitüre. Herr K. scheint es zu schmecken. Und er ist hungrig. Erwartungsvoll öffnet sich sein Mund, Müller füttert ihn, pardon, «gibt ihm das Essen ein», wie sie korrigiert. Herr K. sitzt nun auf der Bettkante. Der Kaffee scheint ihm nicht zu schmecken. Er beginnt, lauthals zu brüllen, scheucht seine Pflegerin mit Schlägen weg. «Für den Moment hat es keinen Sinn. Lassen wir ihn in seiner Welt», sagt Marianne Müller beim Verlassen des Zimmers.

Grosse Belastung

Unterdessen nimmt sich die Pflegefachfrau Zeit, mit der wiederholt freundlich grüssenden Frau M., einen Spaziergang im sonnigen Garten zu machen. Nachdenklich bleiben wir vor dem Blumenbeet stehen – Vergissmeinnicht im Demenzheim. Wie viel Pflege haben die Demenzkranken zugute? Wie viel Zuwendung erlaubt der Alltag?

Eine Runde im Park, ein Schwatz auf dem Bänkchen – dazu komme es häufig, sagt Müller, die zu einem 50-Prozent-Pensum arbeitet. «Mehr möchte ich ehrlich gesagt gar nicht arbeiten. Zu gross ist die Belastung, zu anstrengend die Arbeit mit schwer dementen Menschen.»

Menschen mit Demenz lebten in einer grossen Abhängigkeit zu ihren Betreuern, reflektiert Müller, angesprochen auf die Berichterstattung regelmässig wiederkehrender Skandale und Berichten über Misshandlungsfälle in Pflege- oder Altersheimen. Doch sei eine gehörige Portion Menschenliebe, Geduld und nicht zuletzt eine gute Ausbildung unabdingbar, um mit dem schwierigen Heim-Alltag zurechtzukommen.

Ein Müsterchen lässt sich etwas später im Zimmer von Herrn K. erleben. Dieser sitzt noch immer an der Bettkante, ist dabei aber wieder eingeschlafen. Es ist Zeit für ein Mindestmass an Körperhygiene, erklärt Müller um sogleich anzufügen: «Demente Menschen haben andere Prioritäten als ihr Erscheinungsbild.» Körperpflege aber sei oft mit Stress verbunden, so etwa für Herrn K. das Rasieren.

Eine Rasur muss Herr K. heute nicht über sich ergehen lassen. Die beiden Pflegerinnen waschen ihn. Lauter Protest dringt aus dem Bad. Herr K. beruhigt sich nicht, ist in seiner Welt. Für Marianne Müller ist das der Pflegealltag im Pflegeheim. Ich bin froh, diesen mit der blauen Hose und dem grünen Poloshirt später wieder abstreifen zu können – und damit auch den strengen Geruch aus dem Pflegeheim.