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Schweiz
Aussenminister Ignazio Cassis muss viel Kritik für sein Handeln als Bundesrat einstecken – auch von Bundespräsident Berset. Das könnte sich negativ auf die Stimmung in der Regierung auswirken. Doch Cassis macht unbeirrt weiter.
Der Tweet wurde im Bundesrat registriert und vermerkt. «Ottimo lavoro Pierre! Felicitazioni di cuore», twitterte Aussenminister Ignazio Cassis (57, FDP) Mitte April dieses Jahres.
Die Gratulation an seinen Parteikollegen, den soeben in die Genfer Regierung wiederwählten Pierre Maudet, kam in Bundesbern nicht gut an. Als Bundesrat, heisst im Umfeld anderer Mitglieder, mache man dies nicht. «Bundesräte nehmen nicht öffentlich in dieser Art Partei.» Cassis hätte Maudet ein SMS schreiben können, aber keinen Tweet von seinem offiziellen Bundesratsaccount.
Der Tessiner habe, so heisst es, den Sprung vom Parlamentarier und Parteisoldaten zum Bundesrat nicht geschafft. Auch seine vielen Auftritte im Tessin fallen auf.
Als Beleg für sein Partisanentum gilt der Wirbel, den Cassis zur Nahost-Frage auslöste. In einem Interview in der «Nordwestschweiz» äusserte er sich kritisch zum Palästina-Hilfswerk UNRWA. Dieses sei mittlerweile selbst ein Teil des Problems in Nahost geworden: «Denn solange Palästinenser in Flüchtlingslagern leben, wollen sie in ihre Heimat zurück. Indem wir UNRWA unterstützen, halten wir den Konflikt am Leben», sagte Cassis.
Das laute Infragestellen des UNRWA widersprach der offiziellen Haltung des Bundesrats. Und in der Regierung selbst hatte Cassis seinen trumpesken Kurswechsel nicht angesprochen, er überrumpelte alle. Das sieht man im Bundesrat nicht gerne. Umso weniger, als es der Gesamtbundesrat ist, der die Aussenpolitik bestimmt.
Bundespräsident Alain Berset (SP) aber, der im Europadossier eine Art Burgfrieden mit Cassis geschlossen hatte, reagierte heftig und bestellte den Aussenminister zu sich. Cassis relativierte, er habe es nicht so gemeint. Solches Verhalten mag dazu beitragen, dass einige ihn «das Chamäleon» nennen. Die Folge der Aussprache mit Berset war ein Statement von Bundesratssprecher André Simonazzi, wonach sich die Haltung der Schweiz nicht verändert habe. Den öffentlich gemachten Rüffel, den er kassierte, nahm Cassis dem Bundespräsidenten gemäss Beobachtern ziemlich übel. Der Streit könnte sich, so glauben Beobachter, negativ auf die Arbeit des Bundesrats auswirken.
Aber Cassis, der unbeschwert und sorglos wirkende Tessiner, wird sich nicht beirren lassen. Er hat sich für eine viel volksnähere Kommunikation entschieden als sein hölzerner Vorgänger, und da gehört der Lärm dazu. Damit hat er seine Partei auf den Kurs des Rahmenabkommens mit der EU gebracht. Er arbeitet wie auch sein Parteikollege Johann Schneider-Ammann sehr eng mit der FDP zusammen. Das war dem Vernehmen nach eine der Bedingungen, die die Partei stellte, als sie ihn nominierte. Die FDP litt lange darunter, dass sie keinen Draht zu ihren Bundesräten hatte, während die SP sehr eng mit ihren Magistraten arbeitete. Die Kehrseite ist, dass das Klima im Bundesrat rauer geworden ist, seit Cassis in der Regierung sitzt. Die rechtsbürgerliche Vierermehrheit mit Cassis, Johann Schneider-Ammann (FDP) und den SVP-Vertretern Ueli Maurer und Guy Parmelin setzt sich häufig per Mehrheitsentscheid durch. In der Wahrnehmung der anderen Bundesratsmitglieder sind die Meinungen oft schon vor der Sitzung gemacht. Sie sehen die traditionelle Diskussionskultur im Rat gefährdet.
Aber den zähen Cassis beisst das kaum. In der montäglichen Fragestunde des Nationalrats hagelte es kritische Fragen an ihn von links. Der Gesamtbundesrat musste nachhelfen bei der Beantwortung, weil Cassis die Antworten eher in seinem Sinne als in dem der Regierung vorbereitet hatte. Und im Westschweizer Radio gab Cassis unbeirrt an, er würde sich zum UNRWA wieder so äussern. Es müsse möglich sein, gewisse Dinge zu hinterfragen.
Seine Kommunikation, die Tabubrüche beinhaltet, erinnert an Christoph Blocher, den Spezialisten der bundesrätlichen Sololäufe. Er schert aus der Reihe der Bundesräte aus und holt damit Punkte in Teilen der Bevölkerung. Er geniesst die Auftritte vor der Basis, am liebsten vor seiner Basis. Dass die Linke ihn zunehmend als parteiischen Bundesrat wahrnimmt, nimmt er in Kauf. Ein bürgerlicher Beobachter sagt es so: «Die Linke hat ihn nicht gewählt, sie wird ihn auch nie wählen. Er muss sich also zwangsläufig stark Mitte-Rechts verankern.»
Der Bundesrat bekräftigte am Montag, dass er weiter für eine Zweistaatenlösung einstehe. Er antwortete auf eine Vielzahl kritischer Fragen aus dem Parlament: Das
Engagement für einen dauerhaften Frieden bleibe die Priorität der Schweizer Nahostpolitik. Die Grundlage dafür bildeten das internationale Recht, die relevanten Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats und eine verhandelte Zweistaatenlösung, die sich an den Grenzen von 1967 orientiere.
«Jede Lösung des Konflikts im Nahen Osten muss auf einer gerechten, umfassenden und verhandelten Lösung für das Problem der palästinensischen Flüchtlinge basieren.» Weiter bezeichnet der Bundesrat das palästinensische Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNRWA «als wichtige humanitäre Partnerin der Schweiz», die eine Schlüsselrolle für die Stabilität in der Region und für den Kampf gegen die Radikalisierung spiele. Die Massnahmen des Bundes würden regelmässig überprüft. Dazu gehöre, dass der Bundesrat sein Engagement hinterfrage. In diesem Sinne seien auch die Aussagen von Cassis zu verstehen. (sda)