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Schweiz
Darf man mit über 80 Jahren sterben? Ist es verhältnismässig, der Pandemie mit Unsummen entgegenzutreten? Antoine Chaix, einst im Einsatz für die Ärzte ohne Grenzen, hadert mit der Coronapolitik. Sein Unbehagen hat er Gesundheitsminister Alain Berset in einem Brief kundgetan.
Antoine Chaix hat viel erlebt. Um die Jahrtausendwende stand der 55-Jährige für die «Médecins Sans Frontières» (Ärzte ohne Grenzen) in bürgerkriegs- und seuchengeplagten Ländern im Einsatz. Er musste bei dabei zum Beispiel entscheiden, durch welche Dörfer man die Choleraepidemie ohne Behandlung durchfegen lässt, weil dort weniger Leben zu retten waren als anderswo. Fehlendes Geld und fehlendes medizinischem Personal zwangen zur Triage.
Nun sitzt der Vater zweier Teenager in seiner Hausarztpraxis in Einsiedeln. Er, der für die SP im Schwyzer Kantonsrat sitzt, in seiner Freizeit malt und joggt, spricht bestimmt, aber besonnen. Man kann sich schwer vorstellen, dass den gross gewachsenen Mann, ausgestattet mit Erfahrung in Extremsituationen, etwas aus der Ruhe bringt. Das Coronavirus hat es geschafft. Respektive: Die gewaltigen Summen, die der Bundesrat zur Bekämpfung der Krise locker macht. Am Mittwoch entscheidet der Bundesrat über die dritte, grosse Lockerungsetappe. Chaix sah schon vorher mehr Handlungsspielraum.
Sein Unbehagen hat Chaix am 24. März in einem Brief an Bundesrat Alain Berset zu Papier gebracht:
Chaix schrieb ihn einem Zeitpunkt, als die bundesrätliche Antivirenmedizin fast niemand zu kritisieren wagte, schliesslich galt es den Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. Der Arzt fragte den Gesundheitsminister: Ist es wirklich verhältnismässig, hohe Milliardenbeträge zur Linderung der wirtschaftlichen Kollateralschäden in Kauf zu nehmen, um vielleicht 1000 Menschenleben zu retten, vielleicht mehr, man werde es nie wissen?
Ich bin kein Anhänger der Kostenberechnung für ein Menschenleben im Gesundheitswesen. Aber das ist Irrsinn
, schrieb Chaix. Er erinnert daran, dass in Krisenregionen manchmal 50 Dollar den Tod vermeiden könnten. Werden hierzulande westliche Menschenleben verabsolutiert?
Der Brief, sagt Chaix, sei ein persönliches Ventil gewesen, um die unmittelbare Wut zu verarbeiten, die er verspürte. Er warnte vor den sozialen Kosten, den Konkursen, der Isolation, den psychosozialen Folgen und liess Parteikollege Berset wissen, er plädiere für mehr Rücksicht auf die Wirtschaft, die der Schweiz überhaupt das Privileg erlaube, ein so gutes Gesundheitssystem zu haben .
Das «Bieler Tagblatt» bekam Wind vom nach wie vor unbeantworteten Brief und führte ein Interview, das auch die Schwyzer Lokalpresse abdruckte. Von da an avancierte Chaix zu einer Stimme, die gehört wird. Sogar das Westschweizer Fernsehen bat ihn seine Einschätzungen. Chaix wurde zum Arzt, der die Tabu-Fragen stellt. Die Medienauftritte bescherten Chaix viel Lob und bloss ein einziges ablehnendes E-Mail, wie er sagt.
Chaix ärgerte sich über Bilder in Medien, etwa wie in Italien Personen in ebolaartiger Schutzmontur ein Museum desinfizieren. Oder über einen Artikel in einer Gratiszeitung über einen schwer erkrankten 41-Jährigen. Schwerere, atypische Verläufe gäbe es in der Medizin immer wieder und seien für den Betroffenen einschneidend, trotzdem spreche der Altersmedian von 84 Jahren bei den Todesfällen eine klare Sprache. «Wir sind zum Glück nicht mit einem Killervirus wie Ebola konfrontiert, das je nach Ausbruch 30 bis 90 Prozent der infizierten Personen dahinrafft.»
Chaix befürchtet, dass die Massnahmen des Bundesrats eventuell mehr Leid verursachen als das Coronavirus selber. Mittlerweile stellt der Bundesrat 72 Milliarden Franken zur Abfederung der Krise zur Verfügung. Chaix bekundet immer noch Mühe, das Ausmass zu akzeptieren, wenn er sich vor Augen führt, wie wenig Geld anderswo zur Rettung von Menschenleben zur Verfügung steht. Den Brief an Berset bezeichnet er denn auch als emotionale und biografisch bedingte Reaktion: Die Milliardenausgaben für die Rettung einer Anzahl nicht messbarer Leben oder Lebensjahre, und in Afrika mangelt es an billigen, aber lebensrettenden Medikamenten... «Ich kam mit diesem Widerspruch für einen Moment nicht klar», sagt Chaix. Doch daran könne er aktuell nichts ändern. Deshalb konzentriert er seine Energie jetzt auf die Kantonalpolitik und die Altersheime in der Krise.
Was Chaix zudem besonders umtreibt, sind die Senioren. Er macht eine Zweiklassengesellschaft aus. Auf der einen Seite jene, die selbstständig wohnen, aber grundsätzlich über Bewegungsfreiheit verfügen. Auf der anderen Seite stehen die Bewohner von Alters- und Pflegeheimen. In der Region Einsiedeln betreut Chaix dort regelmässig seine Patienten vor Ort. Die Ausgangssperre und das Besuchsverbot bezeichnet er als skandalöse Bevormundung. «Die Senioren sind faktisch eingesperrt, ohne Kontakt zu ihren Enkeln und Kindern, und kaum jemand schreit auf.» Man solle es den Menschen selber überlassen, wie stark sie sich vor dem Virus schützen wollten. Die Mehrheit der Senioren, mit denen er Kontakt habe, wolle gar nicht vor dem Virus gerettet werden – oder sicher nicht zum Preis einer dauerhaften sozialen Isolation. Anstelle der Lebensqualität, so steht es auch im Brief an Berset, werde die Lebensquantität in fast totalitärer Weise hochgehalten. Chaix beobachtet, wie manche Senioren, den fehlenden Jass mit Jodeln ohne Zuhörer oder anderen Beschäftigungen überbrücken und die Einschränkungen fast ohne Murren schlucken. Andere aber, vor allem jene, die bereits an Demenz litten, würden zusehends «verwelken».
Mittlerweile sind Besuche in einigen Altersheimen unter Auflagen wieder möglich. Chaix findet, sein Kanton lasse sie dabei alleine, weil die Heimleitungen die nötigen Schutzkonzepte letztlich selber ausarbeiten und umsetzen müssten. Bei vielen Heimleitern grassiere die Angst, ungenügend für die weitere Öffnung gewappnet zu sein. Chaix verlangt deshalb mit einem Vorstoss flankierende Massnahmen. Zum Beispiel, dass genügend Personal zur Verfügung steht, um an Covid erkrankte Senioren würdig zu begleiten. Oder dass präventiv Isolationszonen geschaffen werden für jene, die sich vor dem Virus fürchten.
Chaix weiss Bescheid um die tödlichen Folgen eines Covid-Ausbruchs in Altersheimen. Allein im Kanton Schwyz stammen 11 der 23 Covid-Opfer aus einer einzigen Seniorenresidenz.
Chaix versteht seine Einwände nicht als Fundamentalkritik. Der Bundesrat habe im März keine andere Wahl gehabt, als den Lockdown anzuordnen. Allerdings habe man später zu wenig über den Sinn der Massnahmen diskutiert. Chaix fragt sich: Dürfte man der Epidemie nicht ein bisschen stärker freien Lauf lassen, nachdem sich gezeigt hat, dass das Gesundheitssystem nie überlastet wurde? Müssten wir nicht ein bisschen gelassener mit dem Tod umgehen, zumal das Virus – vereinfacht gesagt – vorab alte Kranke trifft und junge Gesunde verschont? «Die Gesellschaft scheint nicht zu akzeptieren, dass man eine Pandemie nicht absolut beherrschen kann. Und offenbar dürfen über 80-Jährige nicht im Rahmen einer solchen Epidemie sterben», stellt Chaix fest. «Mit dieser Vollkaskomentalität haben wir den Umgang mit Risiken verlernt.» Wohl deshalb habe sich der Bundesrat im Zweifel lieber für mehr Sicherheit und gegen Eigenverantwortung entschieden. «Mit dem Lockdown hat er Bürgern das Denken abgenommen. Gezielt die echten Risikopatienten optimal zu schützen ist komplexer, aber meines Erachtens eher anzustreben als eine maximale Eindämmung der Epidemie.»
In seinen früheren Einsätzen mit den Ärzten ohne Grenzen konnte Chaix viel bewirken. Er erinnert sich, wie ein Postbüro in Sierra Leone bei einer Erkundigungsmission kurzerhand zu einer improvisierten Arztpraxis umgewandelt wurde. Innert 12 Stunden untersuchten er und seine Helfer 270 Menschen und versorgten sie mit Medikamenten. In einem anderen Fall wurde innerhalb einer Woche ein Behandlungszentrum mit Platz für über 100 mangelernährte Kinder aus dem Boden gestampft.
Chaix wollte schon als Teenager Arzt werden. Als er seinen Vater auf eine Indienreise begleitete, erschütterten ihn die krassen sozialen Gegensätze zwischen Arm und Reich. Er schwor sich, so «schwierige Länder» nie als Tourist, sondern nur in humanitärer Mission zu bereisen. Eine Szene vom Einsatz nach der Überschwemmung in Mosambik aus dem Jahr 2000 hat er auf einem selbst gemalten Bild festgehalten. Es zeigt ein von grossen Bäumen umsäumtes gelbliches Haus, dessen Vorplatz unter Wasser steht. Einst stieg der Pegel bis unters Dach, davon zeugen Algenspuren. Laut Schätzungen starben bei der Naturkatastrophe rund 800 Menschen, Zehntausende verloren ihr Obdach. Kaum hatten sich die Wassermassen verzogen, feierten die Bewohner in ihren Hütten, bei denen die Fluten den Lehm weggeschwemmt hatten. Ein bisschen mehr Gelassenheit und Fatalismus wünscht sich Chaix auch für die Schweiz – zum Beispiel im Umgang mit dem Coronavirus.