Winterthur geht einen neuen Weg und kümmert sich intensiver um Sozialhilfe-Bezüger. Nun zeigt sich, dass damit Einsparungen in Millionenhöhe erreicht werden. Kann das Modell Schule machen?
Es lief in Winterthur wie andernorts in der Schweiz: Die Sozialhilfe-Kosten kannten nur eine Richtung, nämlich nach oben. 2004 gab die Stadt noch rund 30 Millionen aus. Zehn Jahre später waren es schon fast 50 Millionen. Wie viele andere Gemeinden und Städte machte diese Entwicklung Winterthur zu schaffen. Doch dort ging man neue Wege, um das Problem in den Griff zu bekommen.
Während sich im ganzen Land die Spardebatten vor allem darum drehten, dass man die Sozialhilfe endlich weniger attraktiv machen müsse, mit Kürzungen und schärferen Sanktionen, machte Winterthur etwas anderes. Die Stadt beschloss, künftig mehr in die Betreuung der Sozialhilfe-Bezüger zu investieren. Und hoffte, am Ende auf diese Art das gleiche Ziel zu erreichen: Geld zu sparen.
Jetzt zeigt eine Studie, dass der Winterthurer Weg funktioniert. Nach einem vielversprechenden Pilotprojekt hatte die Stadt im Jahr 2018 die personellen Ressourcen der sozialen Dienste massiv erhöht. Aus 19 Vollzeitstellen wurden innerhalb weniger Monate 30, was einer Erhöhung von 50 Prozent entspricht. Das Ziel: Die Falllast – also die Arbeitsbelastung – der Sozialarbeiter senken. Und ihnen so mehr Zeit verschaffen, sich eingehender um ihre Fälle zu kümmern. Statt teilweise deutlich über 120 sollten künftig nur noch 75 Dossiers auf ihren Tischen liegen.
Früher, sagt der zuständige Winterthurer Stadtrat Nicolas Galladé, hätten seine Leute immer zu wenig Zeit gehabt. Und sich deshalb darauf beschränken müssen, Feuerwehr zu spielen. «Sie konnten sich nicht wirklich mit den Klienten befassen, hatten nur Zeit für das Nötigste», sagt der Sozialdemokrat, «das wollten wir ändern». Die Studie untermauert, dass es sich gelohnt hat. So gelang es der Stadt, die Ablösungsrate deutlich zu erhöhen.
Oder konkret: Statt zuvor durchschnittlich 39 Fälle konnten im Jahr 2019 jeden Monat 50 Fälle aus der Sozialhilfe abgelöst werden. Der Personalausbau machte sich also für die Sozialhilfebezüger bezahlt. Doch er lohnte sich nicht nur für sie. Sondern auch für die Winterthurer Stadtkasse. Und damit für die Steuerzahler. Den 1,6 Millionen Franken Mehrkosten standen im Jahr 2019 nämlich Einsparungen von 4,3 Millionen gegenüber. Macht unter dem Strich Einsparungen von 2,7 Millionen. Das sind 3,5 Prozent der Nettokosten für die Sozialhilfe. Nach jahrelangem, teilweise deutlichem Wachstum gingen die Winterthurer Sozialhilfe-Kosten 2019 erstmals wieder leicht zurück. «Es hat sich gelohnt, in Menschen zu investieren, in die Suche nach individuellen Lösungen», sagt Stadtrat Galladé.
Mit dem Budget 2022 sollen die 11 befristeten Stellen nun in unbefristete umgewandelt werden. Galladé ist zuversichtlich, dass das Stadtparlament seinen Plänen zustimmt. Und er sagt, es würde sich auch für andere Gemeinden lohnen, den Winterthurer Weg einzuschlagen. Das sieht man auch bei der Caritas und der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) so. Deren Präsident Christoph Eymann lobt die «Winterthurer Pionierarbeit» und hofft, dass nun auch andernorts das Thema Falllast stärker auf die Agenda rückt. Teilweise ist dies schon passiert: So hat etwa der Kanton Basel-Stadt kürzlich ein Pilotprojekt lanciert, von dem er sich Einsparungen in Millionenhöhe erhofft. Eymann sagt, der wirtschaftliche Aspekt sei ein wichtiger, doch es gehe auch um Grundsätzliches. «Wer in die Betreuung investiert, setzt ein Zeichen, weil er auf die Klienten eingehen will, um ihre Situation zu verändern», sagt Eymann. Das sei ein Gegentrend zur Stigmatisierung von Betroffenen, die lange Konjunktur gehabt und sich in Kürzungen der Sozialhilfe niedergeschlagen habe.
Der Solothurner Nationalrat Felix Wettstein sagt, die Winterthurer Studie zeige klar, dass die Menschen es früher aus der Sozialhilfe schaffen, wenn sie genug eng betreut werden können. «Es braucht Zeit, sie zu begleiten», sagt er. Eine Falllast von 75 müsse deshalb in der ganzen Schweiz angestrebt werden. Der grüne Sozialpolitiker hat im Frühling eine Motion eingereicht, die auch den Bund in die Pflicht nimmt. Obwohl die Sozialhilfe eigentlich Sache der Gemeinden und Kantone ist, soll der Bund in den Augen von Wettstein ein nationales Impulsprogramm auflegen.
Gerade auch vor dem Hintergrund der Pandemie, sagt Wettstein, soll der Bund mit Geld helfen, damit die Sozialämter sich breiter aufstellen und eine bessere Betreuung gewährleisten können. Die SVP ist die Partei, die stets an vorderster Front für Sozialhilfe-Kürzungen gekämpft hat. Nationalrätin Therese Schläpfer sagt, die Ergebnisse aus Winterthur seien vielversprechend. Doch sie sieht die wahren Probleme nach wie vor an einem anderen Ort.
«Es ist leider Gottes so, dass die Sozialhilfe immer noch zu attraktiv ist», sagt sie. Sie will deshalb an einem alten SVP-Rezept festhalten: tiefere Ansätze und schärfere Sanktionierungsmöglichkeiten – «und damit die Anreize minimieren, Sozialhilfe zu beziehen», wie Schläpfer es formuliert. Um jene herauszufiltern, die wirklich auf staatliche Hilfe angewiesen seien. «Ich halte nichts davon, den Staatsapparat weiter aufzublähen», sagt sie.