Startseite
Schweiz
Heute Donnerstag besucht EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Schweiz. Die verschiedenen Erwartungen an das Treffen von Leuthard und Juncker verdeutlichen das Chaos in der Europapolitik.
Kommt er? Oder kommt er nicht? Der heutige Besuch des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker beschäftigt die Schweizer Politik seit Wochen. Mit ein Grund für die Aufregung sind die Entwicklungsgelder für die osteuropäischen Staaten, welche die EU von der Schweiz erwartet. Der Bundesrat hat zwar offiziell (noch) keine Kohäsionszahlungen versprochen.
Die Regierung konnte aber auch die Gerüchte nicht zerstreuen, wonach Junckers Besuch mit diesen Geldern erkauft werden musste. Dabei ist unklar, was sich die Regierung überhaupt vom Besuch verspricht. Ein freundliches Lächeln mit festem Händedruck? Oder ein Zugeständnis in den Verhandlungen zum ungeliebten institutionellen Rahmenabkommen?
Auch zwischen den Erwartungen der Schweizer Aussenpolitiker liegen Welten. Die einen sehen im Besuch ein Zeichen für eine weitere Entkrampfung zwischen der Schweiz und der EU: Bundespräsidentin Doris Leuthard wird zugestanden, bereits im Frühling die Beziehung zum wichtigsten Handelspartner normalisiert zu haben.
Der Beweis? Die EU löste seit dem Sommer vereinzelte Blockaden auf. Die Schweiz darf beim Emissionshandel mitmachen, das Abkommen über die technischen Handelshemmnisse wurde aktualisiert und zuletzt die Äquivalenz der Schweizer Börse anerkannt.
Der Zürcher SP-Nationalrat Martin Naef geht von einer weiteren Entspannung aus. «Juncker kommt nicht, um Grüezi zu sagen.» Vielmehr müssten die Staaten jetzt schauen, wo konkrete gegenseitige Interessen bestehen, um neue Abkommen aufzugleisen.
Auch die Baselbieter CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter ist «vorsichtig optimistisch», wie sie sagt – und verweist auf die Kohäsionsmilliarde. «Wir können mit diesem Verhandlungspfand weitere Abkommen deblockieren.» Konkret gibt sie auch einem Stromabkommen gewisse Chancen, welches Doris Leuthard schon seit Jahren gerne unter Dach und Fach bringen möchte.
Im Unterschied zu Martin Naef distanziert sich Schneider-Schneiter indes klar von einer Lösung bei den institutionellen Fragen: «Jeder neue Vertrag, der ohne institutionelles Rahmenabkommen zustande kommt, ist ein Erfolg.» Naef ist der Meinung, dass sowohl die Kohäsionszahlungen als auch das Rahmenabkommen keine Verhandlungsmassen seien, sondern die Voraussetzung, um überhaupt am EU-Binnenmarkt teilzunehmen.
Andere Aussenpolitiker halten Junckers Stippvisite hingegen für die ideale Gelegenheit, mit den Verhandlungen zu den institutionellen Fragen von vorne zu beginnen, das Dossier nochmals komplett zu öffnen und gar neue Forderungen zu stellen. An vorderster Front weibelt die FDP für einen Neustart – wie das ja auch der neue freisinnige Bundesrat Ignazio Cassis tut.
Er hat vor seiner Wahl versprochen, in der Europapolitik den «Reset»-Knopf zu drücken. Aussenpolitiker Hans-Peter Portmann (FDP/ZH) konkretisiert erstmals, wie ein solcher Neustart aussehen könnte. «Doris Leuthard muss nach so vielen Jahren erfolgloser Verhandlungen erklären, dass die Situation in der Schweiz aussichtslos ist. Wenn wir über ein Rahmenabkommen abstimmen müssen, endet das in einem Scherbenhaufen.» Und daran habe niemand ein Interesse.
Zudem reden die Partner laut Portmann zur falschen Zeit über die Kohäsionsmilliarde. «Diese ist erst ein Thema, wenn die Zukunft der Beziehung zwischen der Schweiz und der EU geklärt ist.» Portmann verlangt, dass sich die EU auf die Schweiz zubewegen müsse – und nicht umgekehrt. Er ärgert sich vor allem über die ständigen Schikanen.
Als Beispiel nennt er die Äquivalenzanerkennung der Schweizer Börse. Die EU habe diese New York und Hongkong ohne Zögern zugestanden. Bei der Schweiz, dem angeblich engsten und freundschaftlichsten Partner der EU, habe sie ein Gegengeschäft verlangt.
Das sei inakzeptabel. «Wenn die EU eine dynamische Entwicklung des Rechts will, dann muss sie bei der Frage der Streitschlichtung Kompromisse eingehen und die Guillotine-Klausel aus den bilateralen Verträgen streichen.» Die ständige Drohung, dass bei einer Vertragsänderung alle Abkommen hinfällig würden, gebe der EU ein allzu grosses Pfand. Diese Alles-oder-nichts-Haltung müsse sie aufgeben.
Freilich macht die SVP keinen Hehl daraus, dass sie an einer Entwicklung der bilateralen Beziehungen wenig Interesse zeigt. «Doris Leuthard muss mit Jean-Claude Juncker über die Zuwanderung verhandeln», beharrt der Aargauer SVP-Nationalrat Luzi Stamm auf seiner Position – wenn auch ohne grosse Hoffnung. Die Partei startet deshalb voraussichtlich im Januar mit der Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit. Sehenden Auges setzt sie damit einen Teil der bilateralen Verträge aufs Spiel.
Was hat das alles mit Juncker zu tun? Der Besuch zeigt, wie emotional das Thema immer noch belastet ist, wie unterschiedlich die Erwartungen der Parteien sind und auch, welche Zukunft sie sich mit der EU ausmalen. Die alte europapolitische Koalition zwischen SP und FDP, die bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) noch gespielt hat, ist brüchig.
SP-Mann Naef findet, die Schweiz könne sich nicht ewig durchwursteln. «Wir müssen der Bevölkerung erklären, dass Aussenpolitik immer interessengesteuert ist. Die Teilnahme am EU-Binnenmarkt liegt in unserem vitalen Interesse. Und dafür müssen wir Spielregeln einhalten.»
Sprich: ein Rahmenabkommen abschliessen. Die FDP distanziert sich klar vom Rahmenabkommen (zumindest vom Begriff). Sie will mit «roten Linien» die EU dazu bringen, sich auf die Schweiz zuzubewegen und verlangt vom Bundesrat, endlich forscher aufzutreten. Die CVP sucht den Mittelweg, ein unverkrampftes Verhältnis, aber ohne Rahmenabkommen.
Soll der bilaterale Weg gesichert werden, wie dies nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative weit und breit gefordert wurde, muss sich der Graben zwischen den Parteien schliessen. Denn gemäss einer gfs-Umfrage von letzter Woche unterstützten die Schweizer zwar den bilateralen Weg.
Nur sind sie eben auch mehrheitlich gegen die Personenfreizügigkeit. Für die EU ist Letzteres keine Verhandlungsmasse. Um ein Debakel analog zur MEI zu verhindern, wäre es an der Zeit, sich damit auseinanderzusetzen, wie das genau gelingen soll.