Ex-Botschafter
«Bei der Freizügigkeit wird es keine Extrawurst geben»

Die Schweiz geniesst viel Wohlwollen in Berlin – doch auch das hat Grenzen, sagt Ex-Botschafter Tim Guldimann.

Christoph Reichmuth, Berlin
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Tim Guldimann

Tim Guldimann

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Tim Guldimann, Bundeskanzlerin Angela Merkel kommt mitten in der Flüchtlingskrise in die Schweiz. Doch in Bern treibt vor allem die Frage um, wie es nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative weitergehen soll. Was kann die Schweiz vom Besuch erwarten?

Tim Guldimann: Allzu hohe Erwartungen würde ich an diesen Besuch nicht knüpfen. Sicher ist: Deutschland wird sich dafür einsetzen, dass die EU mit der Schweiz spricht. Angela Merkel hat bereits beim Besuch von Bundespräsident Didier Burkhalter im Februar 2014 in Berlin zugesichert, dass sie die Schweiz bei der Suche nach einer Lösung unterstützt, die aber im Rahmen bestehender Prinzipien und Verpflichtungen gesucht werden muss. Merkel bringt unserem Land gegenüber viel Wohlwollen entgegen. Das hat sich auch gezeigt, als sich die Kanzlerin dafür einsetzte, dass die Zusammenarbeit mit dem europäischen Forschungsprogramm bis Ende 2016 fortgesetzt werden kann. Unser Land geniesst in Berlin nach wie vor viel Wohlwollen.

Dann kann also doch über das Prinzip der Freizügigkeit verhandelt werden?

Es gibt keine Hinweise, dass die Regierung in Berlin sich irgendwie darauf einlassen wird, der Schweiz in der Frage der Freizügigkeit eine Extrawurst zu gewähren. Solche Verhandlungen mit uns wären ein Präjudiz für die EU-interne Diskussion. Eine Extrawurst für die Schweiz würde, so die deutsche Haltung, Begehrlichkeiten von den Engländern und andern hervorrufen und innenpolitisch die Diskussion über die Personenfreizügigkeit beflügeln. Das will man nicht.

Das grosse Thema zurzeit ist die Flüchtlingskatastrophe und das Versagen Europas. Das Abkommen von Dublin scheint gescheitert zu sein. Wird Merkel das Thema heute aufs Tapet hieven?

Die Bundeskanzlerin selbst räumt ja ein, dass Dublin zurzeit nicht befolgt wird. Für Merkel ist die Schweiz in dieser Frage sehr wichtig, weil sich die Schweiz ja auch an Dublin beteiligt. Die Schweiz gehört mit zu den Ländern, die am meisten Flüchtlinge aufnimmt. Deutschland setzt sich innerhalb der EU für eine Quotenregelung ein. Da stellt sich wohl auch die Frage einer schweizerischen Beteiligung. Dublin zeigt in der aktuellen Krise, dass das System für die Erstaufnahme-Staaten nicht funktioniert, wenn von dort aus die Flüchtlinge nicht auf andere Länder verteilt werden können.

Die Schweiz hilft bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme viel intensiver als etwa Staaten aus Ost- und Mitteleuropa. Da könnte doch Bern kommen und sagen: Frau Merkel, wir bieten Hand zur Lösung in der Flüchtlingskatastrophe, dafür kommt uns die EU in der Freizügigkeitsfrage entgegen.

Das geht nicht. Ich fände es auch moralisch inakzeptabel, unsere humanitären Pflichten über Tauschgeschäfte versilbern zu wollen. Es ist ein europäisches Interesse, das Flüchtlingsproblem gemeinsam anzugehen. Stellen Sie sich vor, Merkel würde auf einen solchen Handel einsteigen. Dann müsste die Kanzlerin in ganz Europa zu verhandeln beginnen. Die Ungarn wollen dies, die Briten das, die Franzosen was anderes. Das widerspricht der Idee von Europa.

Es gibt noch weitere offene Fragen zwischen der Schweiz und Deutschland. Unter anderem der ungeklärte Fluglärm-Streit. Oder der Neat-Anschluss im Norden, den Deutschland nicht rechtzeitig fertigstellen kann. Muss der Bundesrat hier klar Kante zeigen?

Mit einer befreundeten Regierungschefin kann man natürlich über alles reden. Man wird sicher erfahren, dass sich Berlin in diesen Frage bemühen werde. Tatsache ist, dass der Fluglärm-Streit in Berlin nicht oben auf der Agenda steht. Das ist ein Thema, das vor allem unsere Beziehungen mit Baden-Württemberg betrifft. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Merkel in dieser Frage der Schweiz in Aussicht stellt, der Bundestag würde den Staatsvertrag rasch ratifizieren. Im März stehen in Baden-Württemberg Landtagswahlen an und da gilt es für Berlin, auf lokalpolitische Interessen Rücksicht zu nehmen.