Das Problem ist nicht mehr die Zuwanderung aus der EU, sondern von ausserhalb Europas. Die sonst so instinktsichere SVP hat sich mit ihrer neuen Initiative verrannt - und setzt das Label "Wirtschaftspartei" aufs Spiel, schreibt Chefredaktor Patrik Müller in seinem Wochenkommentar.
Dass die SVP in den vergangenen 25 Jahren zur stärksten Partei aufgestiegen ist, hängt eng mit der Schweizer Europa- und Zuwanderungspolitik zusammen. Bis zur Abstimmung über den EWR-Beitritt 1992 oszillierte der Wähleranteil der damals behäbigen Volkspartei zwischen 10 und 13 Prozent. Erst danach begann er abzuheben – auf zuletzt fast 30 Prozent.
Noch Ende der 1990er-Jahre wollten SP, CVP und FDP sehnlichst in die EU, sie spürten nicht, dass ein Beitritt für die meisten Schweizer ein No-Go war. Die SVP konnte sich als einzige Kraft für eine unabhängige Schweiz profilieren. Ähnliches geschah in der Migrationspolitik. SP, CVP und FDP begriffen nicht, dass die Bevölkerung auf Dauer keine Einwanderung im grossen Stil akzeptieren würde.
Als nach der Einführung der vollen Personenfreizügigkeit 2007 alle Dämme brachen und pro Jahr bis zu 80 000 Menschen aus der EU in die Schweiz einwanderten, lancierte die SVP die Masseneinwanderungsinitiative. Sie kam 2014 durch, gegen den Widerstand von Bundesrat, Parlament, den anderen Parteien und den meisten Medien.
Obwohl die Initiative vom Parlament nicht wortgetreu umgesetzt wurde, ging seither die Zuwanderung aus der EU auffällig stark zurück. Diese Woche wurden die Zahlen von 2017 bekannt: Nur noch 31 000 Personen zogen aus der EU hierher, so wenige wie zuletzt im Jahr 2006. Als Hauptgrund nannte der Bund die verbesserte wirtschaftliche Lage in den EU-Ländern, wo die Arbeitslosigkeit sank.
Womöglich gibt es aber noch einen zweiten Grund: die Signalwirkung der Masseneinwanderungsinitiative. Sie warf auch international hohe Wellen. Die grossen deutschen TV-Talksendungen, etwa «Anne Will», widmeten ihr ganze Sendungen. Gut möglich, dass darum der eine oder andere auswanderungswillige EU-Bürger die Schweiz mied. Wo wie viele Menschen hinwollen, das hängt nicht nur von Gesetzen, sondern auch von Signalen ab. Angela Merkels Selfies mit Flüchtlingen wurden als Einladung wahrgenommen, Donald Trumps Rhetorik gegen Immigranten wirkte abschreckend – die Einwanderung in die USA ging seit seiner Wahl frappant zurück.
Die SVP könnte also zufrieden sein: Aus dem Nein zum EWR entwickelte sich der Plan B – der bilaterale Weg, der sich für die Schweiz als ökonomischer Glücksfall erwies. Und seit dem Ja zur Zuwanderungsinitiative kommen, warum auch immer, weniger Menschen in die Schweiz. Doch zufrieden zu sein, die Dinge positiv zu sehen: Das gehört offensichtlich nicht zum Geschäftsmodell der SVP. Zur gleichen Zeit, als die neuen, tieferen Zuwanderungszahlen bekannt wurden, lancierte die SVP ihre «Begrenzungsinitiative». Diese würde, falls sie angenommen würde, die Personenfreizügigkeit beseitigen.
Damit bewirtschaftet die SVP ein Problem, das keines mehr ist. Die Einwanderung – zumindest diejenige aus der EU, und nur um diese geht es bei der neuen Initiative – ist auf einem Niveau angelangt, das tiefer liegt, als Exponenten der Masseneinwanderungsinitiative im Abstimmungskampf 2014 als Zielgrösse nannten (40 000 pro Jahr, nun sind es effektiv 31 000). Man sieht es nicht nur an den Zahlen, man spürt es auch in Diskussionen und Online-Foren: Die Migration ist nicht mehr das Top-Thema. AHV und «No Billag» beschäftigen die Leute weit mehr.
Die sonst so instinktsicheren SVP-Strategen – sie haben sich ausgerechnet in ihrem Kernthema verrannt. Man wundert sich, dass es in dieser Partei keine vernehmbaren Stimmen mehr gibt, die den Irrlauf als solchen benennen (wo ist Peter Spuhler?) Die «Begrenzungsinitiative» kommt zur Unzeit, und sie schiesst komplett über das Ziel hinaus.
Auch einwanderungskritische Bürger werden die Abwägung machen: Soll ich einer Initiative zustimmen, die – vielleicht! – zu einem noch weiteren Rückgang der EU-Zuwanderung führt, die aber – so gut wie sicher! – den bilateralen Weg gefährdet? Jenen Weg, der für die Schweiz nicht lebenswichtig ist jedoch die beste Form der Kooperation mit unserem wichtigsten Handelspartner darstellt? Es ist fast nicht vorstellbar, dass eine Mehrheit der Bürger das Risiko eingeht, mit dem Personenfreizügigkeits-Abkommen auch die anderen sechs Verträge der Bilateralen I zu kippen, die damit verknüpft sind. Es wäre wider jede Vernunft, solange keine Alternative zu den Bilateralen in Sicht ist, die unseren Wohlstand ebenso gut sichert.
Wenn es heute Probleme mit der Zuwanderung gibt, dann mit jener von ausserhalb Europas. Das verkennt die neue Initiative. Die EU-Fixierung scheint die SVP betriebsblind zu machen. Und sie lässt das Label «Wirtschaftspartei», das sich die SVP gab, unglaubwürdig erscheinen. Bei der FDP freut man sich bereits auf den Wahlkampf 2019.
patrik.mueller@schweizamwochenende.ch