In den Schweizer Städten sind Akademiker bald in der Mehrheit. Die Entwicklung reisst einen neuen Graben auf, der unser Land noch lange prägen wird.
Es ist gar nicht so lange her, dass ein einziger Satz von Christoph Blocher einen gesamten Landesteil zum Schäumen brachte. «Die Welschen hatten immer ein schwächeres Bewusstsein für die Schweiz», sagte der SVP-Übervater nach dem knappen Ja zur Masseneinwanderungsinitiative, was für tagelange Empörung sorgte.
Heute, nur drei Jahre später, scheint der Röstigraben ein Relikt aus vergangener Zeit. Doch grosse Gräben gibt es noch immer. Fast unbemerkt hat sich eine neue Kluft aufgetan, welche die Politik und die Wirtschaft noch Jahre prägen dürfte: der Bildungsgraben.
Den Beginn der Zeitenwende läutete vor wenigen Wochen die Stadt Zürich ein. Sie gab bekannt, dass mittlerweile fast die Hälfte der Stadtbevölkerung einen Hochschulabschluss besitzt. Berücksichtigt man nur Erwachsene, wurde die magische Grenze bereits durchbrochen.
51 Prozent der über 24-Jährigen haben einen höheren Bildungsabschluss. Zürich, einst die Stadt der Arbeiter, ist heute die Stadt der Akademiker. Aus den Fabrikarbeitern von damals sind die Hochschulabsolventen von morgen geworden.
Doch das ist nur der Anfang, die Entwicklung ist nicht mehr allein ein Zürcher Phänomen. In den vergangenen fünf Jahren stieg die Zahl der Akademiker in allen Schweizer Grossstädten kontinuierlich an.
Egal ob Genf, Basel, Bern, Lausanne oder St. Gallen: Überall schnellte die Quote nach oben, oft über die 40-Prozent-Marke, schweizweit liegt sie bei lediglich 29 Prozent. Akademiker drängen in die Städte, Büezer bleiben auf dem Land. Vorbei sind die Zeiten des Geschlechter-, Landesteil- oder Generationenkonflikts.
«Der wichtigste Polit-Graben der Schweiz verläuft heute zwischen den Bildungsschichten», sagt Polit-Geograf Michael Hermann. «Der Bildungsunterschied ist der Hauptgrund, warum der Stadt-Land-Graben weiter wächst.» Seit über 20 Jahren ziehen junge, gut gebildete Leute in die Städte. Auch Zuzüger aus dem Ausland besitzen heute in Zürich zu 81 Prozent eine höhere Bildung. Laut Hermann sind besonders das kulturelle Angebot und das soziale Milieu attraktiv für Akademiker. Die steigenden Mietpreise tun ihr Übriges.
Hermann geht deshalb davon aus, dass in den Städten Filterblasen entstehen, wie er gegenüber «20 Minuten» sagt: «Da die gut Gebildeten ihr eigenes Milieu schaffen, entstehen neue Quartiere.» Das hat politische Konsequenzen: In acht von zehn grossen Schweizer Städten regiert heute Rot-Grün. Einzig Winterthur und Lugano bilden die Ausnahme.
Auch bei Volksabstimmungen dürfte der Bildungsgrad künftig öfter das Zünglein an der Waage sind. Während 1992 beim EWR die Landesteile und 1995 bei der Anti-Rassismus-Strafnorm die Geschlechter den Unterschied ausmachten, offenbarte sich bei der SVP-Durchsetzungsinitiative (DSI) vor allem der Bildungsgraben. Personen ohne Abschluss (52%) oder mit einer Berufslehre (49%) stimmten knapp für beziehungsweise knapp gegen die DSI. Mit jeder höheren Bildungsgruppe serbelte die Zustimmung dahin. Von Personen mit Berufsmatura (33%) über die Fachhochschüler (30%) bis zu den Universitätsabsolventen (22%).
Laut Hermann sind es drei Gründe, warum sich das Bildungsniveau stark auf das Wahlverhalten auswirkt. Erstens seien Fachhochschüler und Universitätsabsolventen besser für die künftigen Herausforderungen gerüstet, die Strukturwandel und Globalisierung mit sich bringen. «Wer eine Berufslehre absolviert hat, den verunsichern die Folgen der Digitalisierung vermutlich stärker.»
Als Beispiel führt Hermann den US-Wahlkampf an. «Viele fragten sich, war es das Thema Wirtschaft oder Zuwanderung, das Trump zum Sieg verhalf? Weder noch, denn der einzige echte Unterschied zwischen Trump und Clinton beruhte auf dem Bildungsgrad der Wähler.» Jene ohne tertiäre Ausbildung stimmten erdrutschartig für Trump. Das wusste er. «I love the poorly educated» rief er der Menge in seinen Wahlkampf-Rallyes zu.
Der zweite Punkt betrifft das abstrakte Denken, das ein Studium fördert: «Globale Zusammenhänge werden schneller erkannt, die lokale Perspektive wird weniger wichtig», sagt Hermann. Die Politik aus dem rechten Lager ziele hingegen stärker auf das Bauchgefühl der Bevölkerung. Ein Beispiel sei die Zuwanderung. Dass es bei mehr Zuwanderung schwieriger werde, einen Job zu finden, spreche viele Menschen intuitiv an.
Drittens fürchten Nicht-Akademiker laut Hermann eine symbolische Entwertung der traditionellen Tätigkeitsfelder. Nirgends zeigt sich ihr Unbehagen klarer als in den Umfragen zur Maturaquote. Zwar drängen Eltern ihren Nachwuchs ans Gymnasium, trotzdem finden rund zwei Drittel der Schweizer, es gebe zu viele Maturanden, während 83 Prozent sagen, Handwerker erhielten zu wenig Wertschätzung. «Schon jetzt fehlen uns Elektriker oder Bäcker, dafür gibt es viel zu viele Ethnologen», beklagen SVP-Vertreter regelmässig. Wenn dann die Gegenseite jeweils eine Matura für alle fordert, ist nur die Empörung grösser als die Kluft zwischen den Ideologien.
Dabei verharrt die Maturaquote seit Jahren bei 20 Prozent. Die Zunahme geht auf andere Bildungswege zurück. Fachhochschulen, die Ausbildung zum Pädagogen sowie die höhere Berufsbildung sind im Aufwind. Für Adolf Ogi, einen der wenigen, die es ohne Hochschulstudium in den Bundesrat schafften, ist die höhere Bildung aber kein Allheilmittel: «Man ist nicht fähiger, nur weil man studiert hat», sagt er. «Weisheit kann man nicht an einer Universität abholen.»
Trotzdem wird die Akademisierung der Städte weiter zunehmen. «Die Zeiten haben sich geändert», sagt Michael Hengartner, Rektor der Universität Zürich. Die technische Entwicklung, insbesondere die Automatisierung würde verschiedenste Jobs verdrängen, von Fabrikarbeitern bis zu Taxifahrern.
Mit der Digitalisierung steige der Bildungsdruck. Schon heute würden viele KMU auf Angestellte mit höherer Bildung setzen. Einen Einfluss auf die politische Gesinnung sieht Hengartner allerdings nicht. Entscheidender sei die Fachrichtung: «An der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät oder an der ETH sind die Studierenden im Durchschnitt deutlich bürgerlicher als bei den Geistes- und Sozialwissenschaften.»
Dass die Städte trotz der gestiegenen Quote von Hochgebildeten ein Ort der Diversität bleiben, steht ausser Frage. Die soziale und kulturelle Durchmischung bleibt. Doch die Abgrenzung zu den ländlichen Gebieten wird grösser. Städter bleiben unter sich, Menschen auf dem Land ebenso, neue Filterblasen entstehen.
Die Frage bleibt, ob die Schweiz darunter leiden wird. Vielleicht sollte man sich gerade jetzt an einen der klügsten Menschen der Geschichte halten: Schon Albert Einstein, selbst Akademiker in Zürich, sagte einst: «Ein Abend, an dem sich alle Anwesenden völlig einig sind, ist ein verlorener Abend.»