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Schweiz
Die «Nordwestschweiz» hat für ihre diesjährige Interview-Serie über die Festtage gegensätzliche Persönlichkeiten zusammengeführt. Heute im Gespräch: der gläubige Katholik Abt Urban Federer vom Kloster Einsiedeln und der atheistische Schweizer Autor Martin Dean.
Abt Urban: Angst? Im Gegenteil, mich zieht diese Wildnis an. Ich lebe zwar in einem wunderbaren barocken Bau, aber ich würde es nicht aushalten, dauernd hier zu sein. Ich gehe oft am Morgen nach dem ersten Gebet raus in die Natur, um die Stille zu hören.
Martin Dean: Mich zieht es in die Gärten, weil ich gerne an schönen Orten bin. Ich finde Gärten spannender als die Natur, weil im Garten menschliches Planen, ästhetisches Empfinden und Natur zusammenkommen. Gärten erzählen viel über Gesellschaftsmodelle, über den Umgang mit den eigenen Gefühlen.
Abt: Das sehe ich nicht so. Auch wir Mönche bearbeiten ja die Natur. Im Mittelpunkt jedes Klosters liegt ein Garten. Spannend ist, wie sich die Gärten über die Zeit verändern, weil die Ideen, die die Menschen mit ihnen ausdrücken wollen, sich verändern. Gärten zeigen, dass unser Schöpfer uns als Mitschöpfer erschaffen hat. Der Garten ist Ausdruck davon, was der schöpfende Mensch alles kann.
Dean: Mein Lieblingsgarten ist übrigens ein religiöser Garten: der Zen-Garten von Ryōan-ji in Japan.
Dean: Absolut. Wenn ich mich hier im Kloster Einsiedeln umschaue oder die Bibel lese, dann steht für mich fest, dass die katholische Kirche der grösste Auftraggeber der abendländischen Kultur war. Ohne die Kirche gäbe es vieles, was wir heute als Kultur empfinden, nicht. Das ist für mich aber kein Beweis, dass es einen Gott gibt.
Abt: Fiktion hat sehr viel mit der wirklichen Welt zu tun. Es stellt sich doch die Frage, was Wirklichkeit denn überhaupt ist. Ist es das, was wir sehen können? Wenn ja, was ist denn die Wirklichkeit eines blinden Menschen? Ich finde die Literatur einen wundervollen Ort, um der Wirklichkeit näher zu kommen. Das hat für mich nichts mit Flucht zu tun.
Dean: Da gebe ich Ihnen recht. Erst Romane, Musik und Gedichte bieten einen Zugang zur Wirklichkeit. Was ausserhalb dieser Kunstformen empirisch vorhanden ist, das ist eine relativ arme Wirklichkeit. Die Beschäftigung mit Kunst ist also kein Rückzug, sie ist der Königsweg in die wirkliche Welt.
Dean: Das Ausschalten der Wahrheit, das unreflektierte Glauben gewinnt tatsächlich an Bedeutung. Die Politik wird zunehmend abergläubisch.
Abt: Ich finde es befremdend, dass viele Menschen heutzutage ihr Bauchgefühl immer gleich zur Maxime für politische Entscheidungen machen.
Abt: Die sozialen Medien an sich sind neutral. Es stellt sich nur die Frage, wie man mit ihnen umgeht. Der Mensch hat es in der Hand, sie zum Guten oder zum Schlechten zu machen. Ich nutze sie nur von meinem Computer aus, ich war noch nie über mein Handy auf Facebook. Wenn ich zum Beispiel Zug fahre, dann lese ich viel lieber ein gutes Buch.
Dean: Die Mediennutzung kürzt generell unsere Reflexionszeiten ab.
Dean: Der dauernde Medienkonsum verhindert die Verinnerlichung dessen, was wir aufnehmen. Diese Medien sind verantwortlich für den Abbau unserer Kultur. Es bricht eine neue Ära an, in der Reflexion, Verinnerlichung und – jetzt sage ich etwas ganz Scharfes ...
Dean: ... auch die Erinnerung verloren gehen werden. Erinnerung ist aber eine Voraussetzung für religiöses Empfinden und für Kunst. Und wenn sie wegfällt, fällt alles zusammen. Facebook macht uns ungeschichtlich.
Abt: Das möchte ich jetzt aber ergänzen. Mich zwingt Twitter, meine Botschaft so zusammenzufassen, dass ich in wenigen Worten ausdrücken kann, was ich sagen will. Das finde ich genial. Wir Kirchenmänner sind oft Künstler darin, ausladend zu reden, ohne etwas zu sagen. Twitter wirkt auf mich erziehend.
Dean: Vor etwa vier Wochen in Paris.
Dean: Der Begriff «Atheist» tönt so, als wäre ich gegen Religion oder gegen Gott. Ich bezeichne mich deshalb eher als Agnostiker, also als jemand, der anerkennt, dass die Existenz oder Nicht-Existenz eines Gottes schlicht nicht bewiesen werden kann. Das Christentum ist für mich als kulturstiftende Gemeinschaft trotzdem wichtig. Wenn ich in eine Kirche gehe, dann interessiert mich primär die Architektur. Für mich sind solche Räume wie ein Gedicht. Ich übernehme aber keinerlei Handlungsanweisungen oder Moralvorstellungen von der Kirche.
Abt: Gar nichts. Ich finde es schön, dass sich Herr Dean an der Kirche erfreut. Für mich ist der Kirchenraum ein Luxus. Die Weite, die wir zum Beispiel in der Klosterkirche Einsiedeln haben, das ist ein Luxus für die Sinne. Für mich ist es auch ein Luxus für die Seele, aber das muss nicht jeder so sehen. Ich stelle aber fest, dass auch Nicht-Gläubige in der Kirche automatisch stiller werden, weil sie merken, dass das hier ein anderer Raum ist als etwa der Hauptbahnhof Zürich.
Dean: Als ich in Paris in diese Kirche kam, spürte ich das auch. Draussen im Menschengewühl war eine Mischung aus Konsumrausch und Terrorangst. In der Kirche drin war nichts davon zu spüren.
Abt: Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, den Leuten zu sagen: «Hier kommt ihr nur rein, wenn ihr meinen Glauben teilt.» Jeder soll den Kirchenraum so geniessen, wie er es will. Ich mache den Leuten in diesem Raum ein Angebot. Es ist jeder frei, das anzunehmen oder nicht.
Abt: Ein geniessender Mensch ist für mich nie ein Horror.
Abt: Man muss zwischen der konkreten Ausformung der Religion und der Religion an sich unterscheiden. Die konkrete Ausformung kann hinderlich sein, das stimmt. Auch das Christentum hat Zeiten erlebt, die für den Dialog nicht förderlich waren. Die Zeiten der Reformation zum Beispiel. Wenn Religion als Machtinstrument missbraucht wird, kann sie gefährlich werden.
Abt: Auch beim Islam muss man diese Unterscheidung aber machen. Wir haben dem Islam viel zu verdanken. Aristoteles, zum Beispiel, kennen wir nur, weil die Muslime seine Lehre im Mittelalter hochhielten, während wir ihn längst vergessen hatten. Aber zurück zum «Wir»-Gefühl: Ich bin froh ein «Du» zu haben, vor dem aus dem «Ich» ein «Wir» wird. Ich versuche, auch mit Andersgläubigen dieses «Wir» zu finden. Für mich ist die Religion als Basis dafür sehr wichtig.
Dean: Ich finde nicht, dass die Religion für das «Wir»-Gefühl nötig ist. Unser Problem ist der abendländische Selbstverwirklichungs-Fetischismus. Unser Ziel ist es, uns selber zu verwirklichen, und diesem Ziel hecheln wir wie die Irren nach. Da wirkt der christliche Glaube tatsächlich als Korrektiv. Er wirft die Frage auf: Wo gehts hin mit unserer Kultur?
Dean: Kant hat gesagt: Meine Freiheit hört da auf, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das wäre eher meine Maxime. Sie hilft uns, das Ideal der Aufklärung zu verwirklichen. Viel mehr als der Satz «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst». Schon Nietzsche erkannte darin eine Art Aufforderung zur Selbstliebe, und die ist ja gerade die Krankheit unserer Zeit.
Abt: Jetzt gerät das Christentum hier in die Defensive. Ich möchte daran erinnern, dass es auch Phasen gab, in denen Herrschaft und Macht ohne Christentum funktionierten: der Kommunismus oder der Faschismus zum Beispiel. Da lief es nicht besser, im Gegenteil.
Abt: Die Aufklärung, die Herr Dean anspricht, bringt selbstbestimmte «Ichs» hervor. Das ist zwar gut. Es darf aber nicht so weit gehen, dass die Welt nicht mehr funktioniert wegen all der selbstbestimmten «Ichs», die nicht mehr auf das «Du» hören.
Abt: Der Zweifel gehört zum christlichen Glauben. Jesus, zum Beispiel, ging nicht mit wehenden Fahnen seinem Tod entgegen und rief: ‹Hurra, endlich ans Kreuz!› Im Gegenteil. Er schrie zu Gott: ‹Warum hast du mich verlassen?› Das ist ein Ausdruck von tiefen Zweifeln. Wenn ich nun aber an Aleppo denke, dann zweifle ich nicht in erster Linie an Gott, sondern an den Menschen. Ich frage mich, weshalb die Menschen nicht erkennen, wie selbstzerstörerisch das ist.
Dean: Das muss ich nicht, ich habe ja keinen Gott. Das Problem ist, dass sich längst nicht alle religiösen Führer den Luxus des Zweifels leisten. Kaum einer zweifelt an seiner eigenen Fähigkeit, Macht auszuüben. Dieser unzweifelhafte Machtauftritt ist mir vollkommen suspekt. Ich glaube aber, dass die Kirche einer der wichtigsten Akteure ist, die in Aleppo Einfluss nehmen können.
Abt: Der Vorteil der katholischen Kirche ist ihre weltweite Vernetzung. Ich habe kürzlich eine Ordensschwester getroffen, die im Libanon Schulen leitet. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung dort sind Flüchtlinge. Die Situation ist explosiv. Trotzdem geht die Schwester dorthin und setzt sich ein, weil sie Hoffnung hat. Ich sage nicht, das Christentum sei die einzige Hoffnungsquelle. Aber der Glaube, dass selbst dann, wenn wir Menschen auf brutalste Art «Nein» zueinander sagen, noch ein Gott da ist, der «Ja» sagt zu uns, der gibt Hoffnung.
Abt: Angst kennt jeder Mensch. Man darf sich von ihr aber nicht lähmen lassen, sonst macht man ja gar nichts mehr. Meine Eltern fragten mich damals schon, ob das jetzt mein Ernst sei. Aber ich wollte das, es zog mich an. Unser Ordensgründer Benedikt von Nursia sagte, der Weg als Mönch könne am Anfang eng werden. Mit der Zeit aber werde einen nicht die Angst, sondern die Liebe leiten. Ich gehe diesen Weg weiter, auch wenn ich ihn hie und da nicht mehr klar sehe. Diesbezüglich sind wir Mönche vielleicht ein bisschen unzeitgemäss.
Dean: Ich habe Mitte zwanzig mit dem Schreiben begonnen, obwohl ich wusste, dass das mit vielen Entbehrungen verbunden ist. Aber ganz ehrlich: Ins Kloster wäre ich nie gegangen, alleine schon wegen der christlichen Einstellung zur Sexualität. Ich bin mit John Lennons Ohrwurm «Make Love, Not War» aufgewachsen. Da kann ich doch nicht in ein Kloster gehen. Sexualität ist für den Menschen etwas Zentrales, man sollte sie ausüben können. Da wünschte ich mir, dass die Kirche einen Schritt in die Moderne machen würde.
Abt: Keine Angst, die katholische Kirche muss sich nicht retten. Wir haben ja in Christus einen Retter. Dass sich die Leute an unserer Einstellung zur Sexualität stören, ist gar nicht so schlecht. Sie ist ein Stachel im Fleisch der Gesellschaft. Ich finde es spannend, dass die katholische Sexualmoral von so vielen Seiten her kritisiert wird, dass aber gleichzeitig viele Menschen dem Buddhismus zuströmen, bei dem das Mönchsleben und das Zölibat – also der Verzicht auf gelebte Sexualität – ebenfalls zentral sind. Ganz allgemein wünschte ich der Gesellschaft mehr Erotik und weniger Pornografie. Die Sexualisierung von allem erachte ich nicht als die sexuelle Befreiung, die John Lennon damals besungen hatte.
Abt: Klar. Das «Hohelied» im Alten Testament, zum Beispiel, erzählt von der Beziehung zwischen Mann und Frau. Sie verlieren sich, suchen sich, finden sich. Der Text ist voller Erotik und wichtiger Bestandteil der christlichen Mystik.
Dean: Mein Ziel ist es, eine Erzählung, eine Narration herzustellen. Damit möchte ich eigene Erfahrungen verarbeiten, damit sie für andere erlebbar werden. Ich bin überzeugt, dass das Schreiben, die Auseinandersetzung mit der Welt, wieder wichtiger wird in einer Zeit, die vor Ungewissheiten nur so strotzt, wo Traditionen reihenweise zusammenbrechen.
Dean: Emotional vielleicht schon. Gesellschaftlich gesehen aber ganz klar nein. Wir müssen als Gesellschaft neue Dinge ausprobieren können, und die Kirche bremst viele dieser neuen gesellschaftlichen Projekte. Das Thema Homosexualität, zum Beispiel. Da wünschte ich mir von der Kirche ein klareres Bekenntnis zur sexuellen Vielfalt. Da bremst die Kirche trotz dem sympathischen Papst immer noch gewaltig.
Abt: Eine der Bremsen, die ich lösen möchte, ist die Sprache. Statt dass die Kirche darlegt, in welchen Bereichen sie überall gegen etwas ist, sollten wir vermehrt kommunizieren, wofür wir sind, und den Menschen sagen: Das und das tut uns allen gut, das bringt uns weiter.
Dean: Jene Predigten, die mir am besten in Erinnerung geblieben sind, sind die, in denen mit einfachen Geschichten Inhalte vermittelt wurden, ohne dass mir konkrete Verhaltensregeln vorgeschrieben worden wären. Die Bibel ist ja ein hervorragendes Storytelling-Buch. Sie hielte haufenweise Geschichten bereit, wenn man sie entschlacken würde.
Dean: Dieser Schuh ist viel zu gross für mich. Ich würde wahrscheinlich ein modernes Geschichtenbuch daraus machen und viele wären total enttäuscht.
Abt: Essays schon, Bücher nicht.
Dean : Ich schicke ihm mein Buch «Verbeugung vor Spiegeln». Da geht es um die Frage, was ist das Eigne, was ist das Fremde. Das Fremde ist ein wichtiger Teil unserer Kultur. Sich mit dem Fremden zu befreunden, ist die einzige Möglichkeit, mit all diesen Menschen zurechtzukommen, die jetzt zu uns kommen.
Abt: Das Kloster Einsiedeln nimmt seit den 80er-Jahren Flüchtlinge auf. Einzigartig war bei den Eritreern die Grösse der Gruppe. Ich setzte mich dafür ein, dass die Flüchtlinge arbeiten durften, zum Beispiel in unserem Rossstall. Wer nicht arbeiten darf, bei dem muss man sich nicht wundern, wenn er ab und an auf dumme Gedanken kommt. Dazu haben wir Projekte mit der Klosterschule lanciert. Die Erfahrung war positiv, hat aber gezeigt: Integration braucht Zeit. Und das ist das Problem mit der Fülle von Menschen, die jetzt kommt. Wer hat die nötige Zeit für deren Integration?
Dean: Wir haben einen Baum gekauft und lesen uns vor. Meine Frau liest meist die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel, ich Gedichte von Bertolt Brecht.
Abt: Eher ein realistisches. Wir lesen uns auch vor, aus den religiösen Weihnachtstexten. Die zeigen mir, dass die Nähe zu Gott nicht unbedingt gegeben ist, wenn wir weich gebettet in den eigenen vier Wänden liegen. Auch, wenn man ausgesetzt und ganz allein ist – zum Beispiel jetzt in Aleppo –, ist die Nähe Gottes erfahrbar. Und diese Nähe zu Gott, die feiere ich heute.
Abt: Eine Kirche voller Leute, die nach der gemeinsamen Feier nach Hause gehen und etwas auf ihren Weg mitnehmen.
Dean: Ich wünsche mir warme Socken.
Abt: Die habe ich schon.