Festtagsinterview
Abt gegen Atheist: Ein Gespräch über Sex, Syrien und Weihnachten

Die «Nordwestschweiz» hat für ihre diesjährige Interview-Serie über die Festtage gegensätzliche Persönlichkeiten zusammengeführt. Heute im Gespräch: der gläubige Katholik Abt Urban Federer vom Kloster Einsiedeln und der atheistische Schweizer Autor Martin Dean.

Samuel Schumacher
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Der eine glaubt an Gott, der andere nicht: Fürs Selfie rückten Abt Urban Federer und Autor Martin Dean trotzdem nah zusammen.

Der eine glaubt an Gott, der andere nicht: Fürs Selfie rückten Abt Urban Federer und Autor Martin Dean trotzdem nah zusammen.

Sie haben eine gemeinsame Leidenschaft: Gärten. Für Sie, Herr Dean, sind Gärten Ideallandschaften in Abgrenzung zur wilden Natur. Und Sie, Abt Urban, entschieden sich für das Mönchsleben, weil Ihnen der Klostergarten so gut gefiel. Haben Sie Angst vor der «Wildnis» da draussen?

Abt Urban: Angst? Im Gegenteil, mich zieht diese Wildnis an. Ich lebe zwar in einem wunderbaren barocken Bau, aber ich würde es nicht aushalten, dauernd hier zu sein. Ich gehe oft am Morgen nach dem ersten Gebet raus in die Natur, um die Stille zu hören.

Martin Dean: Mich zieht es in die Gärten, weil ich gerne an schönen Orten bin. Ich finde Gärten spannender als die Natur, weil im Garten menschliches Planen, ästhetisches Empfinden und Natur zusammenkommen. Gärten erzählen viel über Gesellschaftsmodelle, über den Umgang mit den eigenen Gefühlen.

Ist das nicht fast Gotteslästerung, dass Herr Dean von Menschenhand gestaltete Gärten schöner findet als die Schöpfung der Natur?

Abt: Das sehe ich nicht so. Auch wir Mönche bearbeiten ja die Natur. Im Mittelpunkt jedes Klosters liegt ein Garten. Spannend ist, wie sich die Gärten über die Zeit verändern, weil die Ideen, die die Menschen mit ihnen ausdrücken wollen, sich verändern. Gärten zeigen, dass unser Schöpfer uns als Mitschöpfer erschaffen hat. Der Garten ist Ausdruck davon, was der schöpfende Mensch alles kann.

Dean: Mein Lieblingsgarten ist übrigens ein religiöser Garten: der Zen-Garten von Ryōan-ji in Japan.

Dann hat die Religion also auch für Sie als Ungläubigen Gutes hervorgebracht?

Dean: Absolut. Wenn ich mich hier im Kloster Einsiedeln umschaue oder die Bibel lese, dann steht für mich fest, dass die katholische Kirche der grösste Auftraggeber der abendländischen Kultur war. Ohne die Kirche gäbe es vieles, was wir heute als Kultur empfinden, nicht. Das ist für mich aber kein Beweis, dass es einen Gott gibt.

Sie haben beide Literatur studiert und sich – statt sich mit den wirklichen Problemen auseinanderzusetzen – in fiktive Welten zurückgezogen. Wovor sind Sie geflohen?

Abt: Fiktion hat sehr viel mit der wirklichen Welt zu tun. Es stellt sich doch die Frage, was Wirklichkeit denn überhaupt ist. Ist es das, was wir sehen können? Wenn ja, was ist denn die Wirklichkeit eines blinden Menschen? Ich finde die Literatur einen wundervollen Ort, um der Wirklichkeit näher zu kommen. Das hat für mich nichts mit Flucht zu tun.

Dean: Da gebe ich Ihnen recht. Erst Romane, Musik und Gedichte bieten einen Zugang zur Wirklichkeit. Was ausserhalb dieser Kunstformen empirisch vorhanden ist, das ist eine relativ arme Wirklichkeit. Die Beschäftigung mit Kunst ist also kein Rückzug, sie ist der Königsweg in die wirkliche Welt.

Die «wirkliche Welt» wird in Zeiten, in denen Fakten auch in der Politik immer weniger wert sind, sowieso zum Zankapfel der Meinungsmacher.

Dean: Das Ausschalten der Wahrheit, das unreflektierte Glauben gewinnt tatsächlich an Bedeutung. Die Politik wird zunehmend abergläubisch.

Abt: Ich finde es befremdend, dass viele Menschen heutzutage ihr Bauchgefühl immer gleich zur Maxime für politische Entscheidungen machen.

Apropos Bauchgefühl: Donald Trump verstört die Welt täglich mit undurchdachten Twitter-Beiträgen. Sie, Abt Urban, sind auf Twitter aktiv. Herr Dean hingegen nicht. Er findet, die digitalen Medien hinderten uns daran, ungestört nachdenken zu können. Hat er damit nicht recht?

Abt: Die sozialen Medien an sich sind neutral. Es stellt sich nur die Frage, wie man mit ihnen umgeht. Der Mensch hat es in der Hand, sie zum Guten oder zum Schlechten zu machen. Ich nutze sie nur von meinem Computer aus, ich war noch nie über mein Handy auf Facebook. Wenn ich zum Beispiel Zug fahre, dann lese ich viel lieber ein gutes Buch.

Dean: Die Mediennutzung kürzt generell unsere Reflexionszeiten ab.

Wie meinen Sie das?

Dean: Der dauernde Medienkonsum verhindert die Verinnerlichung dessen, was wir aufnehmen. Diese Medien sind verantwortlich für den Abbau unserer Kultur. Es bricht eine neue Ära an, in der Reflexion, Verinnerlichung und – jetzt sage ich etwas ganz Scharfes ...

... bitte!

Dean: ... auch die Erinnerung verloren gehen werden. Erinnerung ist aber eine Voraussetzung für religiöses Empfinden und für Kunst. Und wenn sie wegfällt, fällt alles zusammen. Facebook macht uns ungeschichtlich.

Abt: Das möchte ich jetzt aber ergänzen. Mich zwingt Twitter, meine Botschaft so zusammenzufassen, dass ich in wenigen Worten ausdrücken kann, was ich sagen will. Das finde ich genial. Wir Kirchenmänner sind oft Künstler darin, ausladend zu reden, ohne etwas zu sagen. Twitter wirkt auf mich erziehend.

Stichwort Kirchenmänner: Wann waren Sie eigentlich zuletzt in einem Gottesdienst, Herr Dean?

Dean: Vor etwa vier Wochen in Paris.

Sie sind doch Atheist, glauben also nicht an Gott. Was machen Sie denn in einem Gottesdienst?

Dean: Der Begriff «Atheist» tönt so, als wäre ich gegen Religion oder gegen Gott. Ich bezeichne mich deshalb eher als Agnostiker, also als jemand, der anerkennt, dass die Existenz oder Nicht-Existenz eines Gottes schlicht nicht bewiesen werden kann. Das Christentum ist für mich als kulturstiftende Gemeinschaft trotzdem wichtig. Wenn ich in eine Kirche gehe, dann interessiert mich primär die Architektur. Für mich sind solche Räume wie ein Gedicht. Ich übernehme aber keinerlei Handlungsanweisungen oder Moralvorstellungen von der Kirche.

Abt Urban, was machen Sie dagegen, dass die Leute nur noch wegen der Architektur in die Kirche kommen?

Abt: Gar nichts. Ich finde es schön, dass sich Herr Dean an der Kirche erfreut. Für mich ist der Kirchenraum ein Luxus. Die Weite, die wir zum Beispiel in der Klosterkirche Einsiedeln haben, das ist ein Luxus für die Sinne. Für mich ist es auch ein Luxus für die Seele, aber das muss nicht jeder so sehen. Ich stelle aber fest, dass auch Nicht-Gläubige in der Kirche automatisch stiller werden, weil sie merken, dass das hier ein anderer Raum ist als etwa der Hauptbahnhof Zürich.

Dean: Als ich in Paris in diese Kirche kam, spürte ich das auch. Draussen im Menschengewühl war eine Mischung aus Konsumrausch und Terrorangst. In der Kirche drin war nichts davon zu spüren.

Ist das für Sie nicht ein bisschen deprimierend, Abt Urban, dass die Kirchen für Menschen wie Herr Dean zwar wunderbare Orte, aber eben keine religiösen Orte mehr sind?

Abt: Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, den Leuten zu sagen: «Hier kommt ihr nur rein, wenn ihr meinen Glauben teilt.» Jeder soll den Kirchenraum so geniessen, wie er es will. Ich mache den Leuten in diesem Raum ein Angebot. Es ist jeder frei, das anzunehmen oder nicht.

Das ist für Sie also kein Horrorszenario, in einer Kirche vor lauter Ungläubigen zu stehen, die nur hier sind, um den Raum zu geniessen?

Abt: Ein geniessender Mensch ist für mich nie ein Horror.

Selfie von Abt Urban von Einsiedeln mit dem Schriftsteller Martin Dean in der Klosterkirche von Einsielden. Selfie von Abt Urban von Einsiedeln mit dem Schriftsteller Martin Dean in der Klosterkirche von Einsielden.

Selfie von Abt Urban von Einsiedeln mit dem Schriftsteller Martin Dean in der Klosterkirche von Einsielden. Selfie von Abt Urban von Einsiedeln mit dem Schriftsteller Martin Dean in der Klosterkirche von Einsielden.

Sie sagten mal, wir müssten wegkommen vom egoistischen «Ich», hin zum gemeinsamen «Wir». Braucht es den Glauben dafür überhaupt? Kommt er uns nicht eher in die Quere?

Abt: Man muss zwischen der konkreten Ausformung der Religion und der Religion an sich unterscheiden. Die konkrete Ausformung kann hinderlich sein, das stimmt. Auch das Christentum hat Zeiten erlebt, die für den Dialog nicht förderlich waren. Die Zeiten der Reformation zum Beispiel. Wenn Religion als Machtinstrument missbraucht wird, kann sie gefährlich werden.

Das sieht man jetzt gerade am Beispiel des Islamischen Staates.

Abt: Auch beim Islam muss man diese Unterscheidung aber machen. Wir haben dem Islam viel zu verdanken. Aristoteles, zum Beispiel, kennen wir nur, weil die Muslime seine Lehre im Mittelalter hochhielten, während wir ihn längst vergessen hatten. Aber zurück zum «Wir»-Gefühl: Ich bin froh ein «Du» zu haben, vor dem aus dem «Ich» ein «Wir» wird. Ich versuche, auch mit Andersgläubigen dieses «Wir» zu finden. Für mich ist die Religion als Basis dafür sehr wichtig.

Dean: Ich finde nicht, dass die Religion für das «Wir»-Gefühl nötig ist. Unser Problem ist der abendländische Selbstverwirklichungs-Fetischismus. Unser Ziel ist es, uns selber zu verwirklichen, und diesem Ziel hecheln wir wie die Irren nach. Da wirkt der christliche Glaube tatsächlich als Korrektiv. Er wirft die Frage auf: Wo gehts hin mit unserer Kultur?

Also brauchen wir das Christentum doch, um von unserem Ego-Trip runterzukommen?

Dean: Kant hat gesagt: Meine Freiheit hört da auf, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das wäre eher meine Maxime. Sie hilft uns, das Ideal der Aufklärung zu verwirklichen. Viel mehr als der Satz «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst». Schon Nietzsche erkannte darin eine Art Aufforderung zur Selbstliebe, und die ist ja gerade die Krankheit unserer Zeit.

Abt: Jetzt gerät das Christentum hier in die Defensive. Ich möchte daran erinnern, dass es auch Phasen gab, in denen Herrschaft und Macht ohne Christentum funktionierten: der Kommunismus oder der Faschismus zum Beispiel. Da lief es nicht besser, im Gegenteil.

Trotzdem steht doch die Religion der Aufklärung irgendwie im Weg, oder?

Abt: Die Aufklärung, die Herr Dean anspricht, bringt selbstbestimmte «Ichs» hervor. Das ist zwar gut. Es darf aber nicht so weit gehen, dass die Welt nicht mehr funktioniert wegen all der selbstbestimmten «Ichs», die nicht mehr auf das «Du» hören.

Wenn Sie an Aleppo denken, kommen Ihnen dann nie Zweifel an der Existenz des allmächtigen «Dus», des christlichen Gottes, der doch so
etwas nie zulassen dürfte?

Abt: Der Zweifel gehört zum christlichen Glauben. Jesus, zum Beispiel, ging nicht mit wehenden Fahnen seinem Tod entgegen und rief: ‹Hurra, endlich ans Kreuz!› Im Gegenteil. Er schrie zu Gott: ‹Warum hast du mich verlassen?› Das ist ein Ausdruck von tiefen Zweifeln. Wenn ich nun aber an Aleppo denke, dann zweifle ich nicht in erster Linie an Gott, sondern an den Menschen. Ich frage mich, weshalb die Menschen nicht erkennen, wie selbstzerstörerisch das ist.

Herr Dean, wenn man Aleppo sieht, muss man doch Gott abschwören.

Dean: Das muss ich nicht, ich habe ja keinen Gott. Das Problem ist, dass sich längst nicht alle religiösen Führer den Luxus des Zweifels leisten. Kaum einer zweifelt an seiner eigenen Fähigkeit, Macht auszuüben. Dieser unzweifelhafte Machtauftritt ist mir vollkommen suspekt. Ich glaube aber, dass die Kirche einer der wichtigsten Akteure ist, die in Aleppo Einfluss nehmen können.

Abt: Der Vorteil der katholischen Kirche ist ihre weltweite Vernetzung. Ich habe kürzlich eine Ordensschwester getroffen, die im Libanon Schulen leitet. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung dort sind Flüchtlinge. Die Situation ist explosiv. Trotzdem geht die Schwester dorthin und setzt sich ein, weil sie Hoffnung hat. Ich sage nicht, das Christentum sei die einzige Hoffnungsquelle. Aber der Glaube, dass selbst dann, wenn wir Menschen auf brutalste Art «Nein» zueinander sagen, noch ein Gott da ist, der «Ja» sagt zu uns, der gibt Hoffnung.

Sie haben mit 24 entschieden, bis ans Ende Ihrer Tage im Kloster zu leben. Hatten Sie nie Angst, dass Sie Ihren Glauben verlieren und als Gefangener Ihres Entscheids enden könnten?

Abt: Angst kennt jeder Mensch. Man darf sich von ihr aber nicht lähmen lassen, sonst macht man ja gar nichts mehr. Meine Eltern fragten mich damals schon, ob das jetzt mein Ernst sei. Aber ich wollte das, es zog mich an. Unser Ordensgründer Benedikt von Nursia sagte, der Weg als Mönch könne am Anfang eng werden. Mit der Zeit aber werde einen nicht die Angst, sondern die Liebe leiten. Ich gehe diesen Weg weiter, auch wenn ich ihn hie und da nicht mehr klar sehe. Diesbezüglich sind wir Mönche vielleicht ein bisschen unzeitgemäss.

Hätten Sie, Herr Dean, diesen Mut jemals aufgebracht, eine so folgenreiche Entscheidung zu treffen?

Dean: Ich habe Mitte zwanzig mit dem Schreiben begonnen, obwohl ich wusste, dass das mit vielen Entbehrungen verbunden ist. Aber ganz ehrlich: Ins Kloster wäre ich nie gegangen, alleine schon wegen der christlichen Einstellung zur Sexualität. Ich bin mit John Lennons Ohrwurm «Make Love, Not War» aufgewachsen. Da kann ich doch nicht in ein Kloster gehen. Sexualität ist für den Menschen etwas Zentrales, man sollte sie ausüben können. Da wünschte ich mir, dass die Kirche einen Schritt in die Moderne machen würde.

Braucht es eine inner-katholische sexuelle Revolution, um die katholische Kirche zu retten, Abt Urban?

Abt: Keine Angst, die katholische Kirche muss sich nicht retten. Wir haben ja in Christus einen Retter. Dass sich die Leute an unserer Einstellung zur Sexualität stören, ist gar nicht so schlecht. Sie ist ein Stachel im Fleisch der Gesellschaft. Ich finde es spannend, dass die katholische Sexualmoral von so vielen Seiten her kritisiert wird, dass aber gleichzeitig viele Menschen dem Buddhismus zuströmen, bei dem das Mönchsleben und das Zölibat – also der Verzicht auf gelebte Sexualität – ebenfalls zentral sind. Ganz allgemein wünschte ich der Gesellschaft mehr Erotik und weniger Pornografie. Die Sexualisierung von allem erachte ich nicht als die sexuelle Befreiung, die John Lennon damals besungen hatte.

Und Erotik kann das Christentum bieten?

Abt: Klar. Das «Hohelied» im Alten Testament, zum Beispiel, erzählt von der Beziehung zwischen Mann und Frau. Sie verlieren sich, suchen sich, finden sich. Der Text ist voller Erotik und wichtiger Bestandteil der christlichen Mystik.

Als Autor kennen Sie sich aus mit Texten, Herr Dean. Was ist eigentlich Ihr Ziel als Schriftsteller?

Dean: Mein Ziel ist es, eine Erzählung, eine Narration herzustellen. Damit möchte ich eigene Erfahrungen verarbeiten, damit sie für andere erlebbar werden. Ich bin überzeugt, dass das Schreiben, die Auseinandersetzung mit der Welt, wieder wichtiger wird in einer Zeit, die vor Ungewissheiten nur so strotzt, wo Traditionen reihenweise zusammenbrechen.

Wäre das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um der Kirche beizutreten, die ihren Gläubigen einen sinnstiftenden Gedankenteppich ausbreitet?

Dean: Emotional vielleicht schon. Gesellschaftlich gesehen aber ganz klar nein. Wir müssen als Gesellschaft neue Dinge ausprobieren können, und die Kirche bremst viele dieser neuen gesellschaftlichen Projekte. Das Thema Homosexualität, zum Beispiel. Da wünschte ich mir von der Kirche ein klareres Bekenntnis zur sexuellen Vielfalt. Da bremst die Kirche trotz dem sympathischen Papst immer noch gewaltig.

Welche Bremse muss die Kirche am dringendsten lösen, Abt Urban?

Abt: Eine der Bremsen, die ich lösen möchte, ist die Sprache. Statt dass die Kirche darlegt, in welchen Bereichen sie überall gegen etwas ist, sollten wir vermehrt kommunizieren, wofür wir sind, und den Menschen sagen: Das und das tut uns allen gut, das bringt uns weiter.

Dean: Jene Predigten, die mir am besten in Erinnerung geblieben sind, sind die, in denen mit einfachen Geschichten Inhalte vermittelt wurden, ohne dass mir konkrete Verhaltensregeln vorgeschrieben worden wären. Die Bibel ist ja ein hervorragendes Storytelling-Buch. Sie hielte haufenweise Geschichten bereit, wenn man sie entschlacken würde.

Würden Sie sich denn anbieten, die Bibel noch einmal umzuschreiben und sie näher an die Lebensrealität der Leser zu bringen?

Dean: Dieser Schuh ist viel zu gross für mich. Ich würde wahrscheinlich ein modernes Geschichtenbuch daraus machen und viele wären total enttäuscht.

Abt Urban, neben der Bibellektüre verbringen Sie jeden Tag eine Stunde mit Lesen. Haben Sie mal ein Buch von Herrn Dean gelesen?

Abt: Essays schon, Bücher nicht.

Was können Sie Abt Urban denn empfehlen, Herr Dean?

Dean : Ich schicke ihm mein Buch «Verbeugung vor Spiegeln». Da geht es um die Frage, was ist das Eigne, was ist das Fremde. Das Fremde ist ein wichtiger Teil unserer Kultur. Sich mit dem Fremden zu befreunden, ist die einzige Möglichkeit, mit all diesen Menschen zurechtzukommen, die jetzt zu uns kommen.

Abt Urban, Sie haben sich 2014 mit Fremden befreundet und 25 eritreische Flüchtlinge bei sich aufgenommen. Wie ist das rausgekommen?

Abt: Das Kloster Einsiedeln nimmt seit den 80er-Jahren Flüchtlinge auf. Einzigartig war bei den Eritreern die Grösse der Gruppe. Ich setzte mich dafür ein, dass die Flüchtlinge arbeiten durften, zum Beispiel in unserem Rossstall. Wer nicht arbeiten darf, bei dem muss man sich nicht wundern, wenn er ab und an auf dumme Gedanken kommt. Dazu haben wir Projekte mit der Klosterschule lanciert. Die Erfahrung war positiv, hat aber gezeigt: Integration braucht Zeit. Und das ist das Problem mit der Fülle von Menschen, die jetzt kommt. Wer hat die nötige Zeit für deren Integration?

Heute ist Heiligabend. Wie feiert man das eigentlich als Mensch, der nicht an Gott glaubt?

Dean: Wir haben einen Baum gekauft und lesen uns vor. Meine Frau liest meist die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel, ich Gedichte von Bertolt Brecht.

Und Sie, Abt Urban? Sie sagten kürzlich, Weihnachten sei nicht einfach zuckersüss. Schliesslich komme da jemand auf die Welt, der keinen Platz findet und flüchten muss. Ist das für Sie ein trauriges Ereignis, das wir heute feiern?

Abt: Eher ein realistisches. Wir lesen uns auch vor, aus den religiösen Weihnachtstexten. Die zeigen mir, dass die Nähe zu Gott nicht unbedingt gegeben ist, wenn wir weich gebettet in den eigenen vier Wänden liegen. Auch, wenn man ausgesetzt und ganz allein ist – zum Beispiel jetzt in Aleppo –, ist die Nähe Gottes erfahrbar. Und diese Nähe zu Gott, die feiere ich heute.

Was wünschen Sie sich zu Weihnachten?

Abt: Eine Kirche voller Leute, die nach der gemeinsamen Feier nach Hause gehen und etwas auf ihren Weg mitnehmen.

Dean: Ich wünsche mir warme Socken.

Abt: Die habe ich schon.