Corona-Krise
8000 Soldaten im Kriseneinsatz: Das ist in Friedenszeiten die grösste Mobilmachung der Armee seit 1848

Schon einmal half die Armee der Bevölkerung in einer grossen Grippeepidemie: 1918, als die spanische Grippe 25'000 Todesopfer forderte. Der Kriseneinsatz 2020 könnte der Armee viele Sympathien eintragen.

Othmar von Matt
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Schulen wurden geschlossen. Tanzveranstaltungen, Theater und Konzerte waren für längere Zeit verboten. Märkte blieben zu. Es war untersagt, Kirchen zu betreten. Gottesdienste wurden verboten. Und selbst bei Bestattungen galten Restriktionen.

Die Rede ist nicht von 2020. Sondern von Verboten aus dem Jahre 1918, als die spanische Grippe wütete. 24'449 Grippetote zählte die Schweiz, was 0,62 Prozent der Bevölkerung entsprach. Gegen zwei Millionen Schweizerinnen und Schweizer - jeder zweite von damals vier Millionen Einwohnern - erkrankte an dieser Grippe.

Mitten drin steckte die Schweizer Armee. Frontsoldaten hatten sich in der Nähe des jurassischen Dorfes Bonfol im Juli 1918 erstmals mit der spanischen Grippe infiziert. Die Schweizer Grenze traf dort auf die deutsch-französische Frontlinie im Ersten Weltkrieg. Die Grippe breitete sich dann rasant in der ganzen Schweiz aus.

Opfer der spanischen Grippe 1918.

Opfer der spanischen Grippe 1918.

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Acht Kantone brauchen Armee-Unterstützung

Auch im März 2020 steht die Schweizer Armee wieder im Mittelpunkt einer epidemiologischen Krise, in der Corona-Krise. Diesmal allerdings, weil der Bundesrat die Armee um Hilfe bat. Sie soll die zivilen Behörden unterstützen.

Eine Chronologie von Armee-Einsätzen in Friedenszeiten

12. bis 14. November 1918: Der Bundesrat bietet im Landesstreik auf Antrag des Generals rund 95'000 Mann Ordnungstruppen auf. Es kommt zu Blutvergiessen auf beiden Seiten. In Grenchen (SO) schiessen Soldaten auf pöbelnde, aber kaum bedrohliche Zivilisten und töten drei davon.

9. November 1932: Genf wird Schauplatz heftiger Zusammenstösse zwischen Faschisten und Kommunisten. Sie sind im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Totalitarismus in Europa zu sehen. Der Regierungsrat bittet um den Einsatz von Truppen im Bundesdienst. Am Abend des 9. Novembers stehen nicht fertig ausgebildete Rekruten pöbelnden Teilnehmer einer unbewilligten Demonstration gegenüber. Die Truppe, die sich bedroht fühlt, eröffnet das Feuer. 13 Personen werden getötet. Ein Denkmal warnt noch heute: «Plus jamais ça!»

1953: Billig-Aprikosen aus Italien überfluten den Markt, die Bauern in Saxon (VS) revoltieren, stecken vier SBB-Waggons in Brand und verbarrikadieren alle Zugänge zum Dorf, um die Armee am Einschreiten zu hindern.

1969 und folgende Jahre: Die Armee bewacht die Flughäfen Zürich und Cointrin. Die Soldaten werden dafür vereidigt. 1969 war es zu einem Anschlag auf die El Al am Flughafen Zürich gekommen. Später wurden vier Maschinen nach Zerka (Jordanien) entführt und gesprengt, darunter eine Swissair-Maschine. Rechtsgültig verurteilte Terroristen werden aus Schweizer Gefängnissen freigepresst.

19./20. November 1985: Die Schweizer Armee leistet Aktivdienst zum Schutz des Gipfeltreffens zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Genf.

3. Februar 1995: Im Rahmen der Revision des Militärgesetzes können Truppen neu für Assistenzdienste aufgeboten werden.

Maximal 8000 Soldaten sollen in den Spitälern helfen, in der Logistik, im Sicherheitsbereich. Sie sollen die Polizei im Bedarfsfall auch beim Schutz der Botschaften und an den Flughäfen unterstützen und das Grenzwachtkorps an der Grenze.

Alleine 3000 Angehörige der Armee stehen für das Gesundheitswesen bereit. Acht Kantone haben inzwischen ein Gesuch um Unterstützung eingereicht: Baselland, Bern, Graubünden, Neuenburg, Tessin, Thurgau, Wallis und Waadt.

Die Armee ist das einzige Machtinstrument des Bundesrats

«Seit der Gründung des Bundesstaates 1848 gab es, von Manövern und Vorbeimärschen abgesehen, in Friedenszeiten wohl nie eine so grosse Mobilmachung wie 2020», sagt Militärhistoriker Jürg Stüssi-Lauterburg. Sicher habe es in Friedenszeiten seit 1871 nie eine so grosse Mobilmachung der Armee gegeben wie 2020.

Die Armee ist das einzige Machtinstrument des Bundesrats. «Er braucht es, um existenzielle Bedrohungen abzuwenden, machtpolitische, aber auch zum Beispiel bei Umweltkatastrophen oder Epidemien», sagt Stüssi. «Er braucht es aber nicht für die Innenpolitik. Darin sind sich heute alle einig.»

Das zeigte sich an der Medienkonferenz vom Montag mit Verteidigungsministerin Viola Amherd. Es stehe die Angst eines Polizeistaates im Raum, sagte «SonntagsBlick»-Chefredaktor Gieri Cavelty - und fragte: «Wann wird der erste Soldat mit einem Maschinengewehr bewaffnet auf Leute im Park zugehen und sagen: Jetzt müsst ihr nach Hause gehen?»

«Irgendwelche martialischen Auftritte sind kein Ziel»

Amherd sprach in ihrer Antwort Klartext. «Ich glaube, das werden Sie nicht erleben. Wir hoffentlich auch nicht», sagte die Bundesrätin. «Die Armee ist nur subsidiär im Einsatz. Als Unterstützung und Hilfe der zivilen Behörden. Es ist weder Ziel noch Aufgabe der Armee, jetzt irgendwelche martialischen Auftritte zu haben.»

Lange hatten innenpolitische Ordnungseinsätze der Armee für grosse innenpolitische Spannungen gesorgt. Etwa bei Streiks und Unruhen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. «Die Linke reagierte historisch immer empfindlich auf Ordnungsdienste der Armee», sagt Militärhistoriker Stüssi. «Die Lage beruhigte sich aber ab 1935 mit dem Ja der SP zur Landesverteidigung und weiter mit dem Militärgesetz von 1995, mit welchem der Assistenzdienst eingeführt wurde.»

Seit 1995 werden die Truppen immer wieder zu Assistenzdiensten aufgeboten. Sie sollen den zivilen Behörden bei Waldbränden und im Konferenzschutz helfen. 2001 bot der Bundesrat erstmals Armeetruppen auf für Assistenzdienste am World Economic Forum (WEF) von Davos.

Bundesrat musste Bundesversammlung nicht einberufen

Im Assistenzdienst sind die maximal 8000 Soldaten auch in der Corona-Krise aufgeboten. In dringlichen Fällen könne der Bundesrat Truppen aufbieten, heisst es dazu in Artikel 185 der Bundesverfassung. «Bietet er mehr als 4000 Angehörige der Armee für den Aktivdienst auf oder dauert dieser Einsatz voraussichtlich länger als drei Wochen, so ist unverzüglich die Bundesversammlung einzuberufen.» Da diese zum Zeitpunkt des Bundesrats-Entscheids gerade tagte, musste er das nicht tun.

Die Situation sei «sehr speziell» mit der grössten Mobilmachung seit langem, sagt Nationalrätin Ida Glanzmann, Präsidentin der Sicherheitskommission des Nationalrats. «Das zeigt: Die Armee kann helfen. Und sie kann sich der Zivilgesellschaft unterordnen.»

Viola Amherd als Landesmutter

Glanzmann ist voll des Lobes für ihre Parteikollegin Viola Amherd. «Ich habe ihr ein Feedback gegeben», sagt sie. «Sie wirkte an der Medienkonferenz sehr sympathisch, mit viel Ruhe und Gelassenheit, die sehr beruhigend ist. Das ist in dieser Situation sehr wichtig.»

«Landesmutter» Viola Amherd.

«Landesmutter» Viola Amherd.

Keystone

Viola Amherd, die Oberwalliser Verteidigungsministerin, wirkte an der Medienkonferenz wie eine Landesmutter. Auch deshalb ist die Chance gross, dass die Armee bei der Bevölkerung punktet. Sie habe aus dem Tessin, wo die Armee bereits im Einsatz ist, nur gutes gehört, sagt Glanzmann: «Die Armee baut ihre Zelte ruhig, geordnet und sehr gut organisiert auf.»

Beobachter befürchten aber auch, dass die Corona-Krise die Beschaffung der Kampfjets erschwert. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise sind gravierend. Das könnte dazu führen, glauben sie, dass die Bevölkerung die Investitionen in Kampfjets möglicherweise ablehnt.

Die 69 vergessenen Heldinnen

1918 hatte die Armee - mitten im Krieg - ihren ersten Grosseinsatz für die zivile Bevölkerung, im Rahmen der spanischen Grippe. «Die militärische Betreuung von Grippeopfern war Teil der Bewältigung der Epidemie», sagt Militärhistoriker Jürg Stüssi.

Die Armee machte dabei von ihrem Recht Gebrauch, dass ihr Krankenpflegeschulen das Personal zur Verfügung stellen mussten. Sie berief 742 Krankenschwestern ein. Dabei starben 69 Pflegerinnen des Rotkreuzdienstes - weil sie angesteckt wurden.

Das seien, sagt Militärhistoriker Stüssi, «vergessene Heldinnen».

Anweisungen via TV und Radio

Seit Dienstagnachmittag ist jede Stunde in den Radioprogrammen der SRG und den konzessionierten Privatradios eine einheitliche Botschaft zu hören. Die Regierung wendet sich an die Bevölkerung:

«Bleiben Sie zu Hause, insbesondere wenn Sie alt oder krank sind.» Das Haus verlassen soll man nur für die Arbeit, Arzt- und Apothekenbesuche, Lebensmitteleinkäufe oder um anderen zu helfen. «Der Bundesrat und die Schweiz zählen auf Sie!», endet der Appell. Die gleiche Botschaft wird stündlich auf den Online-Portalen der SRG und im TV als Lauftext verbreitet.

Der Bundesrat kann auf die Medien zugreifen

Die Verlautbarung stützt sich auf das Bundesgesetz über Radio und Fernsehen. SRG und konzessionierte Privatsender unterstehen der «Bekanntmachungspflicht» und müssen die Öffentlichkeit über Erlasse des Bundes informieren. «Der Text wurde uns vom Innendepartement pfannenfertig übergeben. Redaktionelle Änderungen sind nicht erlaubt», erklärt SRG-­Sprecher Edi Estermann.

Die Ansage wurde von SRG-Radiosprechern im Studio Bern in allen vier Landessprachen eingesprochen. Weder bei der SRG noch beim Bund kann man sich an eine ähnliche Verlautbarung via Rundfunk in den letzten Jahrzehnten erinnern. Diese läuft noch bis Donnerstagnacht. Danach müsste der Bund einen neuen Auftrag erteilen. (cbe)