Schweiz - EU
50 Tage vor Brexit-Abstimmung: EU lässt den Bundesrat zappeln

Die Schweiz macht vehement Druck für einen raschen Zuwanderungs-Deal nach der Brexit-Abstimmung vom 23. Juni. Doch in Brüssel bewegt sich so gut wie nichts.

Stefan Schmid
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Simonetta Sommaruga und Didier Burkhalter an der Medienkonferenz zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitaitive im vergangenen Dezember. (Archiv)

Simonetta Sommaruga und Didier Burkhalter an der Medienkonferenz zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitaitive im vergangenen Dezember. (Archiv)

Keystone

Bis zur Abstimmung über den Austritt Grossbritanniens aus der EU vom 23. Juni (Brexit) passiert einmal gar nichts. Dies teilten EU-Spitzenpolitiker den Schweizer Bundesräten bereits Anfang Jahr mit. Ein Zeitfenster für eine Lösung mit der Schweiz in der umstrittenen Zuwanderungsfrage gebe es erst nach geschlagener Schlacht mit den Briten. Und auch dann nur, wenn diese der EU nicht den Rücken kehren.

Bern macht Druck

In der Schweiz haben Bundesrat und Parlament angesichts dieser Ausgangslage die innenpolitische Diskussion über die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative auf den Herbst verschoben. Zuerst eine Lösung mit der EU, dann die Debatte im Inland, so der Fahrplan. Gleichzeitig versuchen Schweizer Spitzenpolitiker, Optimismus zu verbreiten und damit die EU-Seite unter Druck zu setzen. Zuletzt war es Aussenminister Didier Burkhalter, der von «substanziellen Fortschritten» im Bereich der institutionellen Verhandlungen sprach und damit den Anschein erweckte, als stünde man kurz vor dem Durchbruch. Das Kalkül dahinter ist klar: Die Schweizer Regierung will die EU mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dazu bewegen, nach dem 23. Juni endlich Nägel mit Köpfen zu machen.

Was macht die SVP?

Selbst wenn sich die Schweiz und die EU auf eine Lösung verständigen sollten, ist nicht klar, ob diese innenpolitisch auf Unterstützung stossen würde. Führende Politiker der SVP, die als Initiantin der Masseneinwanderungsinitiative die Schweiz in die aktuell so verfahrene Situation gebracht hat, halten sich in dieser entscheidenden Frage bedeckt. Würde die SVP auch eine Lösung akzeptieren, die weit davon entfernt ist, was das Volk am 9. Februar 2014 beschlossen hat? Eine Lösung also, die weder Kontingente oder Höchstzahlen noch einen Inländervorrang vorsieht. Oder würde sie in diesem Fall, wie von Christoph Blocher schon angedroht, eine Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit lancieren, was gleichbedeutend ist mit dem Ende der Bilateralen? Die SVP lässt sich so lange nicht in die Karten blicken, wie noch unklar ist, worauf sich Bern und Brüssel einigen könnten. Sie hält damit den Druck auf den Bundesrat aufrecht. (ssm)

Die Zeit nämlich drängt in doppelter Hinsicht. Die Schweiz muss einerseits bis Ende Jahr das Protokoll für die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien ratifizieren. Der Bundesrat hat dies von einer Einigung im Zuwanderungsdossier abhängig gemacht. Andererseits muss die Masseneinwanderungsinitiative, sollte es keine Lösung mit Brüssel geben, autonom umgesetzt werden. Die Initiative hat Regierung und Parlament dafür bis Februar 2017 Zeit gegeben. Das Ziel des Bundesrats ist deshalb, mit der EU bis zum Beginn der Sommerferien Mitte Juli handelseinig zu werden. Dann könnte diese Lösung als Vorschlag in die Herbstsession des eidgenössischen Parlaments eingespeist werden.

Recherchen aber zeigen nun: Die Hoffnungen auf eine rasche Einigung sind weit überzogen. Es gibt zwar tatsächlich ein Zeitfenster, das sich unmittelbar nach der Brexit-Abstimmung öffnet. Doch die Chance, dass sich die Schweiz und die EU in den wenigen Wochen, die bis zur Sommerpause Mitte Juli verbleiben, auf eine einvernehmliche Lösung zur Regulierung der Zuwanderung verständigen können, sind klein. «Die Lage ist schwierig. Die Positionen sind inhaltlich nach wie vor weit auseinander», sagt ein Kenner des Dossiers.

Konkret: Die EU lehnt Kontingente und Höchstzahlen kategorisch ab, obwohl das Schweizervolk am 9. Februar 2014 genau dies beschlossen hatte. Der Bundesrat weiss dies und spricht deshalb schwammig von einer Schutzklausel. Doch auch ein Inländervorrang, der in der Schweiz von verschiedenen Parteien ins Spiel gebracht wurde, hat in Brüssel nicht viel bessere Chancen. «Selbstverständlich diskutieren wir mit der EU auch über einen Inländervorrang. Doch wir sollten davon nicht viel erwarten», sagt eine andere gut informierte Quelle.

Die EU habe den Briten zwar ein Recht eingeräumt, andere EU-Bürger beim Zugang zu den Sozialleistungen zu diskriminieren. Doch das sei nicht dasselbe wie ein allgemeiner Inländervorrang bei der Stellenbesetzung, wie es der Schweizer Seite vorschwebt. Kenner der Materie sind daher pessimistisch. Es gebe wenig Grund zur Annahme, dass die EU der Schweiz punkto Inländervorrang mehr entgegenkommen sollte als dem gewichtigen Mitgliedsland Grossbritannien.

Mogherinis 20 Minuten

Das Problem erschöpft sich indes nicht alleine darin, dass Bern und Brüssel unterschiedliche Positionen haben. Es ist fundamentalerer Natur. «Die EU hat kaum Zeit und Lust, sich ernsthaft mit der Schweiz zu befassen», sagt ein Insider. Flüchtlingskrise, neue Zahlungsschwierigkeiten Griechenlands, aufstrebende Rechtspopulisten: Die Liste grösserer Probleme ist lang. Die Schweiz ist in Brüssel schlicht nicht auf dem Radar. Nur subalterne Beamte kennen sich im Dossier einigermassen aus.

Aussenminister Burkhalter hat dies vergangene Woche anlässlich seines Besuchs in Brüssel am eigenen Leib erfahren. EU-Aussenministerin Federica Mogherini wollte dem Schweizer Gast zuerst nur ein Gespräch von 20 Minuten Dauer gewähren und mit ihm vornehmlich über Syrien und andere internationale Themen sprechen. Daraufhin habe die Schweizer Seite mit dem Abbruch der Übung gedroht, sollte das Gespräch nicht länger dauern. Mogherini gestand Bundesrat Burkhalter 10 zusätzliche Minuten zu. Am Ende seien es dann zwar 60 Minuten gewesen. Und man habe entgegen der offiziellen EU-Kommunikation auch über bilaterale Probleme gesprochen. Das Gespräch habe aber gezeigt, wie wenig Gewicht der Schweiz derzeit beigemessen werde. Die EU-Aussenministerin sei über verschiedene Dossiers schlecht informiert gewesen.

Solche Szenen wiederholen sich in Brüssel ständig. Ein Diplomat formuliert es so: «Wenn wir unsere Situation erklären, dann nicken alle verständnisvoll und versprechen, eine Lösung suchen zu wollen.» Sobald die Schweizer Delegation wieder abgereist sei, passiere dann aber doch nichts. Und das nächste Mal, wenn man wieder in Brüssel aufkreuze, müsse man stets von vorne beginnen.

Diplomatische Knochenarbeit. Die Schweiz im Hamsterrad? Vielleicht, vielleicht, landet Staatssekretär Jacques de Watteville, der Chefunterhändler des Bundesrats, doch noch einen Coup. So richtig daran glauben tun indes jene, die es in der Hand haben, nicht.

Was dann?

Ein fortgesetzter Schwebezustand würde den Bundesrat gleich doppelt in eine heikle Situation bringen. Erstens steht die Ratifikation des Kroatien-Protokolls an. Die EU hat die weitere Teilnahme der Schweiz am Forschungsprogramm Horizon 2020 von dieser Unterschrift abhängig gemacht. Für die Schweizer Universitäten wäre ein Ausschluss ein Super-GAU. Der Bundesrat ist in der Klemme, weil er seinerseits das Kroatien-Dossier mit substanziellen Fortschritten im Zuwanderungsbereich verknüpft hat. Ohne Einigung mit Brüssel sähe sich der Bundesrat gezwungen, entweder die Interessen der Schweizer Forscher zu verraten oder gegenüber der EU klein beizugeben.

Zweitens müsste das Parlament ohne Einigung mit der EU autonom die Zuwanderung beschränken. Wie dies genau geschehen soll, ohne das Abkommen über die Personenfreizügigkeit zu verletzen und damit die Zukunft der bilateralen Verträge zu riskieren, ist schleierhaft. Die schwerwiegendste Konsequenz wäre indes Rechtsunsicherheit. Bereits heute beklagen sich Unternehmen darüber, dass man nicht wisse, wie das Verhältnis Schweiz-EU in fünf Jahren aussehe. Investitionsentscheide werden vertagt. Diese Rechtsunsicherheit würde ohne Lösung mit Brüssel nicht nur verlängert, sondern weiter verschärft. EU-Experte Dieter Freiburghaus formuliert es so: «Irgendwann muss die Schweiz die Schicksalsfrage, wie sie es mit Europa hält, beantworten.» Die Zeit des Nichtstuns läuft ab.