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Xenomelie: Wenn zwei Beine eines zu viel sind

Xenomelie – Betroffene empfinden einen bestimmten Teil ihres Körpers als unbeseelten Klumpen Fleisch, der nicht zu ihnen gehört. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als ein ungeliebtes Körperteil wegzuhaben. Nelson, ein Betroffener, erzählt.

Claudia Weiss
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Xenomelie: Betroffene wünschen sich nichts sehnlicher, als ein ungeliebtes Körperteil wegzuhaben

Xenomelie: Betroffene wünschen sich nichts sehnlicher, als ein ungeliebtes Körperteil wegzuhaben

ittockphoto

Lässig stützt sich Nelson, so nennt er sich hier, auf die spezial gefederten Krücken und wippt mit seinem linken Beinstumpf.

Der 50-Jährige liebt es, ihn zu zeigen, und geht vorzugsweise ohne Prothese unter die Leute, damit alle seine selbst gewählte Behinderung gut sehen können.

In einer Podiumsdiskussion hat er soeben geschildert, wie der intensive Wunsch, «behindert zu sein», ihn bedrängt, seit er sich erinnern kann. Jetzt steht er beim Eingang des Zürcher Universitätsspitals.

Hierher kommen täglich zahlreiche Patienten, um kranke Glieder retten zu lassen.

Die rund 20 Personen rund um Nelson, in einer fidelen Gruppe versammelt, haben das Gegenteil im Sinn: Sie wollen wissen, ob und wie sie ein gesundes, aber ungeliebtes Körperteil loswerden können.

«Alles durchdringender Wunsch»

Sie sind aus der Schweiz und aus Deutschland angereist, um an einer zweitägigen Konferenz mit Wissenschaftlern und Fachleuten zu diskutieren, was hinter ihrem eigenartigen Wunsch steckt, ob allenfalls eine Therapie helfen kann.

Oder ob es juristisch und ethisch vertretbare Wege gibt, ihr unerwünschtes Körperglied amputieren zu lassen: Sie leiden an einer seltenen Körperwahrnehmungsstörung namens Xenomelie, «Fremdgliedrigkeit».

Betroffene empfinden einen bestimmten Teil ihres Körpers als unbeseelten Klumpen Fleisch, der nicht zu ihnen gehört.

«Inkarnation ohne Animation», nennt das der Neuropsychologe Peter Brugger vom Universitätsspital Zürich.

Er hat das Phänomen untersucht und herausgefunden, dass im Gehirn Betroffener Veränderungen sichtbar sind, und dass dieses Leiden quasi das Gegenstück ist zu den schon länger bekannten Phantomschmerzen: Dabei wird ein Körperglied gefühlt, obschon es gar nicht vorhanden ist, also eine «Animation ohne Inkarnation».

Wenn Nelson lächelt, ziehen sich feine Fältchen um seine Augen hinter der feinen Metallbrille. «Nein, keine seltsamen Familienverhältnisse, kein auslösendes Ereignis, aber seit jeher dieser alles durchdringende Wunsch, behindert zu sein.»

Nelson ist gross und drahtig, sein schmales Gesicht unter den sandfarbenen Haaren wirkt intelligent. Auf seinem T-Shirt prangt der provokative Aufdruck «Amp4life» («Amputiert fürs Leben»): Er ist einer jener Xenomeliker, der das geschafft hat.

Vor drei Jahren setzte er seinen minutiösen Schlachtplan in die Tat um, hob die ersparten 20 000 Euro ab und zahlte sie an ein Spital irgendwo in Asien ein, denn in Europa dürfen Ärzte keine gesunden Körperteile amputieren.

Für Arbeitgeber und Ehefrau hatte sich Nelson eine plausible Geschichte zurechtgelegt: Er habe sich im Urlaub am Bein verletzt, die Wunde habe sich infiziert.

«Täglich rapportierte ich telefonisch, wie sich die Entzündung verschlimmere», er schmunzelt, noch heute macht es ihn «einfach nur glücklich», an jenen Moment zurückzudenken, in dem sein lang gehegter geheimer Lebenswunsch endlich wahr wurde.

«Ich wachte aus der Operation auf und wusste: Jetzt bin ich vollständig.»

Nicht nur sein Bein war weg, sondern auch seine Krankheit, die unter Body Intercity Identity Disorders (Körperintegritätsidentitätsstörung) eingereiht wird und weltweit wohl über tausend Menschen trifft.

Der lange Rückflug aus Asien, das Eingewöhnen zu Hause, bei der Arbeit mit nur einem Bein? «Kein Problem», Nelson winkt ab.

Das hatte er ja längst schon geübt bei seinen regelmässigen Ausflügen in eine andere Stadt, bei denen er sich unter dem Mantel ein Bein hochband und sich mit «Pretenden», So-tun-als-ob, Erleichterung verschaffte.

Das machen die meisten der Betroffenen, so auch jene fünf, die per Rollstuhl in Zürich anrollten, und es hilft ihnen über die Zeit hinweg, in der sie keine echte Lösung für ihr Problem finden: Nicht alle können sich eine Operation im Fernen Osten leisten.

Ganz Verzweifelte verletzen sich dann schon mal selber und hoffen, dass ihre Wunde eine Amputation nötig macht. Auf solche Wünsche reagieren Nichtbetroffene irritiert, einige beschimpfen die Betroffenen aufs Übelste.

«Das kann ich verstehen», sagt Nelson und nickt gelassen, er hat Erfahrung mit Intoleranz. Und wer so viele Jahre unter diesem enormen Druck gelitten hat, nicht vollkommen zu sein, den berühren abschätzige Bemerkungen nicht gross.

Behindert: gerne, Mitleid: niemals

Viel wichtiger für ihn: Jetzt kann er beweisen, dass er alles schafft, Mitleid will er keinesfalls erheischen. Sind die Krücken im Weg, schnallt er sich wohl oder übel eine Prothese über seinen Stumpf.

Er mag dieses endlich vollkommene Körperteil, verbindet auch erotische Fantasien damit und hat sich gar eine Schönheitsoperation geleistet, um eine hässliche Narbenfalte wegzubringen.

Kritische Fragen bringen den erfolgreichen Geschäftsmann nicht aus der Ruhe. «Andere Leute erfüllen sich ihren Traum vom Ferrari, bei mir ist es mein Beinstumpf.»

Bereut hat er den Entscheid «höchstens zwei Minuten in zwanzig Monaten», als er mit seinem Sohn herumtollte. Nelson wirkt so zufrieden und vernünftig, dass seine seltsame Sehnsucht immer noch unverständlich, aber nicht mehr unendlich abstrus erscheint.