Die Regionalredaktion Aarau zügelt von der Bahnhofstrasse an die Neumattstrasse. Eine Gelegenheit, bei den neuen Nachbarn vorbeizuschauen.
Irena Jurinak
Leo Wacker und seine Frau verpassen nie ein Maienzug-Bankett. «Wir gehen bei jedem Wetter hin.» Vor 34 Jahren zogen die beiden von Trimbach im Kanton Solothurn nach Aarau an die Rütmattstrasse. In den ersten Telliblock, der in den 70er Jahren gebaut wurde. «Die Wohnungen in der Telli waren zu jener Zeit auf dem Platz Aarau eines der wenigen Immobilienangebote», erinnert sich der 80-jährige Ingenieur und ehemalige Telefonchef bei der PTT. In ein Einfamilienhaus mit Garten wollte er unter keinen Umständen ziehen. «Ich bin in einem Haus aufgewachsen und musste mich als Kind um zwei Dinge kümmern: Meine Schulaufgaben und den Garten.» Von seinem Balkon im dritten Stock sieht man links die Stadt, rechts den Auenwald und im Hintergrund die Jurahügel. An der Wand im Esszimmer hängen unzählige Fasnachtsplaketten. Leo Wacker besitzt jede Plakette der Basler Fasnacht seit 1913. Als Zwinglianer und reformierter Zürcher sei er natürlich kein richtiger Fasnächtler, «aber Plausch am Zuschauen habe ich». Das Büchergestell im Wohnzimmer erstreckt sich über die ganze Wand - Leo Wacker liest viel, Biografien und historische Erzählungen. «Ah, du wohnst in dieser Staumauer?» hört er oft. Es stört ihn nicht. «Gefiele es mir hier nicht, würde ich nicht seit Jahren hier wohnen. Ich kann praktisch in den Finken einkaufen gehen.» Früher habe die Immobilienfirma Werbung damit gemacht, dass in den Telliblöcken auch Ingenieure und Professoren wohnen.
Bevor Christina Furter mit ihren drei Kindern in die Telliblöcke zog, wohnte sie auf dem Land. «In einem richtigen kleinen Kaff, in dem jeder jeden kennt.» Für die alleinerziehende Mutter war es nach der Trennung nicht einfach, eine Wohnung zu finden. In der fünfeinhalb-Zimmerwohnung an der Delfterstrasse hat nun jeder ein eigenes Zimmer - die 20-jährige Selina, die 18-jährige Julia und der 15-jährige Samuel. «Meine Kinder konnten hier immer gefahrlos nach draussen gehen, da keine Autos durch das Quartier fahren.» Kindergarten und Schule waren auch in der Nähe. Am grossen Tisch im Esszimmer trifft sich die Familie, Christina Furters Lebenspartner wohnt gleich nebenan. Die 43-jährige Jugendarbeiterin geniesst in der Telli den Luxus der Stadt und dass sie zu Fuss einkaufen gehen kann. Innert Kürze lerne man Menschen kennen, spätestens am Briefkasten, in der Waschküche, im Keller oder im Lift. «Der Ruf der Staumauern ist schlechter, als sie sind.» Manche dächten sogar, es handle sich um Sozialwohnungen und niemand spreche deutsch. Furter findet das Multikulturelle bereichernd. «Das einzige, das fehlt, sind Freizeitangebote für Jugendliche.» Sobald ihr Jüngster aus der Schule kommt, will Christina Furter ausziehen, die Familie sucht etwas Eigenes in der Umgebung. Die Preispolitik der Verwaltung ist ihr zu undurchsichtig. «Hier bezahlt jeder einen anderen Mietzins.»
Dominik Landolt kennt die Vorurteile: «Die Slums von Aarau.» «Viele Ausländer.» «Ich würde nie dort wohnen.» Der Küttiger kennt jedoch auch die andere Seite der Telli - seit seiner Kindheit. Seine Grossmutter wohnte an der Neuenburgerstrasse. In ihre Wohnung zog der 28-Jährige vor dreieinhalb Jahren mit seiner Partnerin ein. Seiner Telli hat der Techniker bei einer Sicherheitsfirma sogar die Homepage www.telli.ch gewidmet. Zwei Webcams zeigen die Aussicht von seinen beiden Balkonen: Einmal Richtung Stadt und Jurakette und auf der anderen Seite Richtung Industrie. «Bei guter Sicht sieht man sogar die Alpen.» Weihnachts-Lichterketten machen seinen Balkon weitherum sichtbar. «Es hat hier alles, was man braucht.» Seine Partnerin könne zu Fuss einkaufen gehen und den Einkaufswagen mit nach Hause nehmen. Dieser wird vor dem Hauseingang von Coop-Mitarbeitern wieder abgeholt. «Im Winter muss ich dank der Garage mein Auto nicht ausbuddeln.» Zügeln ist für die beiden kein Thema. «Höchstens vielleicht in eine grössere Wohnung, falls wir mal eine Familie gründen.»
Karin Maurer sagt sie trage man ganz sicher irgendwann in der sechseckigen Kiste aus ihrer Wohnung an der Delfterstrasse. 1984 war sie eine der Erstbezügerinnen. Sie liebt die Aussicht vom zehnten Stock, die Lage am Wasser und am Wald. Die 54-jährige Geschäftsfrau mag es luftig - so ist auch ihre Wohnung eingerichtet, ein Esstisch, ein Sofa, eine Vitrine, nichts Überflüssiges steht da. Im Gang hängt ein Spiegel, verziert mit Swarovski-Steinen - ein Unikat einer österreichischen Künstlerin. Um viertel nach Fünf steht Karin Maurer morgens auf und fährt nach Zürich zur Arbeit. «Am Sonntag kann ich in Ruhe ausschlafen.» Man kennt sie in der Telli - sie engagiert sich im Quartierverein und schreibt für die Tellipost. «Wenn ich den ganzen Tag zu Hause wäre, würde mir vielleicht schon die Decke auf den Kopf fallen.» Ein paar Hausnummern weiter wohnt ihre beste Freundin. «Man hat hier alles, was man braucht, ob Apotheke, Optiker oder Arzt.» Einzig Karin Maurers Stammbeiz - die Aarauer Stube - ist nicht in der Telli, sondern in der Stadt.
Auch der Freiämter René Meyer ist ein richtiger Tellianer geworden. Vor 13 Jahren suchte er eine neue Wohnung und meldete sich auf ein Inserat. Als er hörte, dass die Wohnung in den Telliblöcken liege, war seine erste Reaktion «da ziehe ich bestimmt nicht hin». Er liess sich vom Vermieter überzeugen, sich die Wohnung zumindest anzuschauen. «Noch am gleichen Tag habe ich den Mietvertrag unterschrieben», erzählt der 68-Jährige. Die Aussicht, die grosszügigen Räume, die Ruhe hatten es ihm angetan. In den Gängen trifft er nur selten Menschen. «Aber wer Kontakt will, findet ihn auch.» Kurz nachdem er eingezogen war, legten ihm Nachbarskinder ein Präsent vor die Haustüre. «Wenn ich sie heute sehe, erschrecke ich, wie erwachsen sie schon sind.» Der pensionierte Geschäftsführer in der Textilindustrie engagiert sich im Quartierverein und organisierte mehrmals das Tellifest und rief den Herbstmarkt ins Leben - einen Beitrag zur Integration von Ausländern. An 40 Ständen bieten Menschen aller Nationalitäten ihre Esswaren oder Kleidungsstücke an. «Die Tellianer sind sicher keine Stadtaarauer, sondern ein Völkchen für sich. Sie sind wohl eher ländlich als städtisch.»