Am Ende blieb keine Frage mehr offen. Mehr noch: Franziska Brand wusste sogar auf jede Frage die richtige Antwort. Das logische Ergebnis: Die Ursenbacherin schloss die Lehre als Detailhandelsfachfrau mit der Note 6,0 ab.
Walter Ryser
An so etwas kann sich niemand erinnern - weder im Bildungszentrum in Langenthal, noch bei der Bader Büro Design AG, wo Franziska Brand die Lehre als Detailhandelsfachfrau absolvierte und vor kurzem mit der Note 6,0 abschloss. Damit hat sie nicht bloss sich selbst, sondern auch den Lehrbetrieb, die Lehrer an der Gewerbeschule, ihre Schulkollegen, die Familie und Bekannten überrascht. Auf jede Frage wusste sie die richtige Antwort. Kein Fach ist ihr fremd, keine Aufgabe zu schwer.
Weiche Knie bei Diplomfeier
6,0 - das tönt nicht bloss unglaublich, das tönt fast schon Angst einflössend, vor allem dann, wenn man der jungen Frau gegenübertritt. Wie verhält man sich in Gegenwart von «Superwoman», ohne dass man sich dabei blamiert? Franziska Brand winkt ab. Sie will keine «Superwoman» sein und fühlt sich trotz 6,0 keinen Zentimeter grösser.
Von einem «einmaligen Erlebnis» spricht auch Barbara Herrmann, die Lehrlingsausbildnerin bei der Bader AG. Die 48-jährige Papeteristin aus Rüegsbach bezeichnet Franziska Brand als «Super-Lehrtochter». Sie habe schon damit gerechnet, dass sie in die Ränge komme, «aber dieses Resultat hat uns alle überrascht».
Sie habe noch keine so junge Person gesehen, die bereits so perfektionistisch veranlagt sei, berichtet Barbara Herrmann weiter. «Sie ist eine, die stets alles 200-prozentig richtig machen will.» Während der Lehre habe sienicht locker gelassen, bis sie alles wusste. Dadurch habe sie sich aber auch immer wieder selber unter Druck gesetzt.
Pflichtbewusstsein sei aber nicht die einzige Charaktereigenschaft von Franziska Brand, weist Barbara Herrmann darauf hin, dass die Detailhandelsfachfrau diese Eigenschaft zwischendurch auch einmal ausblenden könne. «Mit ihr kann man auch über Privates diskutieren, gemeinsam lachen oder über ganz alltägliche Dinge sprechen. Sie ist eine natürliche, unkomplizierte junge Frau.»
Im Vordergrund stünde bei ihr aber stets, die Arbeit perfekt erledigen zu wollen. Dass sie als Lehrlingsausbildnerin auch zum guten Abschluss von Franziska Brand beigetragen hat, ist für Barbara Herrmann sekundär. «Sie alleine hat diese Leistung vollbracht. Ich habe ihr nur geholfen und sie begleitet. Das habe ich gerne getan. Dafür bin ich doch da.» (war)
«Ich freue mich riesig über das Ergebnis, werde deswegen aber nicht abheben. Das wäre kontraproduktiv», versucht sie diese aussergewöhnliche Leistung zu relativieren. Gleichzeitig wischt sie noch die Vermutung vom Tisch, dass ihr alles leicht falle und die Lehre für sie ein Kinderspiel gewesen sei. «Vor der Ladenprüfung beispielsweise war ich sehr nervös», erzählt die Ursenbacherin, die noch bei den Eltern wohnt, die eine Sägerei betreiben.
Auch in der Schule habe sie sich anstrengen müssen. «Für gute Noten musste ich einiges tun, alle Tests jeweils gut und gründlich lernen.» Das hat sie getan, weil sie vermutlich gar nicht anders kann. «Ja, ich bin schon eine Person, die halbe Sachen nicht ausstehen kann. Wenn ich etwas mache, dann richtig, konsequent und mit vollem Engagement.»
Für die 23-Jährige, die drei Geschwister hat, ist das eine Lebenseinstellung. Man müsse sich nicht immer mit dem Minimum zufrieden geben. Dass diese Haltung bei der Lehrabschlussprüfung zur Note 6,0 führte, damit rechnete aber selbst Franziska Brand nicht. Als sie bei der Diplomfeier auf die Bühne gerufen wurde, habe sie weiche Knie gehabt.
Sie will keine «Streberin» sein
Eine gute Prüfung gelinge nur, wenn das berufliche Umfeld stimme, ist die Detailhandelsfachfrau überzeugt. «In unserem Team waren alle sehr hilfsbereit. Ich konnte immer fragen.» Wichtig sei auch gewesen, dass die Firma über ein grosses Sortiment verfüge, denn dadurch habe sie sich ein breites Wissen aneignen und dieses auch praktisch anwenden können. Das wird sie auch weiterhin tun, denn nach einem fünfwöchigen Sprachaufenthalt in England wird sie im Oktober zur Bader AG zurückkehren.
Eine Note ab 5,0 habe sie sich zum Ziel gesetzt, stapelt sie tief, sie, die bereits in all ihren Zeugnissen während der dreijährigen Lehrzeit stets einen Notenschnitt zwischen 5,6 und 5,8 aufwies. Als «Streberin» aber lässt sie sich nicht gerne bezeichnen. Sie sei bloss bis zur achten Klasse gerne in die Schule gegangen. Danach sei ihr das «Schüuerle» verleidet. «Ich sass nicht gerne hinter den Aufgaben.»
Mit ihrer Abschlussnote hat sie aber für Aufsehen gesorgt. Bereits am Tag nach der Diplomfeier sei sie von Kunden im Laden angesprochen worden, erzählt sie fast ein wenig verlegen. Aber auch im privaten Umfeld sei sie einige Male auf ihr Ergebnis angesprochen worden, und man habe ihr gratuliert.
Diese plötzliche «Popularität» war ihr fast peinlich. «Ich habe anfänglich gar nicht richtig wahrgenommen, was ich da geleistet habe.» Mittlerweile hat sie sich daran gewöhnt, geniesst die Glückwünsche, und dabei lässt sich sogar ein bisschen (berechtigter) Stolz aus ihrem Gesicht ablesen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Franziska Brand beruflich für Aufsehen sorgt, denn bevor sie Detailhandelsfachfrau lernte, hatte sie bereits eine Lehre erfolgreich beendet. Das aktive Mitglied des Turnvereins Ursenbach liess sich in Valangin im Kanton Neuenburg zur Drechslerin ausbilden. «Dieser Beruf hat mich einfach angesprochen», sagt sie.
Doch die Chance, nach der Lehre auf dem Beruf weiter arbeiten zu können, war nicht vorhanden. Eine Alternative musste her. «Als Drechsler ist eine Zweitausbildung als Schreiner naheliegend, doch das hat mir nicht zugesagt.» Papier, Schreib- und Büromaterial habe sie schon als Kind magisch angezogen, und nach einer Schnupperlehre war der Entschluss gefasst. Wie dieses Kapitel endete, wissen wir mittlerweile.
Übrigens: Die Lehre als Drechslerin schloss Franziska Brand mit der Note 5,0 ab. «Die praktische Prüfung gelang mir nicht optimal», erinnert sie sich. Wie tröstlich für uns alle: auch «Superwoman» ist manchmal bloss ein ganz normaler Mensch...