2014 finden die Olympischen Winterspiele in Russland statt – neben der Euphorie fehlt dort auch der Schnee.
Christian Weisflog, Sotschi
«Sotschi, starker Regen, zehn Grad Celsius», kündigt der Pilot an. Vor gut zwei Stunden lag das Thermometer im verschneiten Moskau noch im tiefen Minusbereich. Nach einem unruhigen Landeanflug übers Meer werden die Gäste in Bussen zu den maroden Betonpavillons gefahren, die hier seit 1956 als Abflug- und Ankunftshallen dienen. Wann der neue Flughafen in Betrieb geht, ist unklar. Sein Bau begann 1989 noch zu Sowjetzeiten, als die Passagierzahlen deutlich über denen von heute lagen.
Der Kreml möchte Sotschi mit 12 Milliarden US-Dollar ein modernes Gesicht schneidern. Auf der 25 Kilometer langen Fahrt entlang der Küstenstrasse Richtung Zentrum ist vom Aufbruch allerdings noch wenig zu erkennen. Dicht gedrängte Barackenbauten und eigenwillige Selbstkonstruktionen wechseln sich ab mit den mondänen Sanatorien, die hier zwischen Zypressen, Palmen und Pinien in einen Dornröschenschlaf verfallen sind. Ihre sowjetischen Namen tragen sie bis heute: Prawda, Metallurg oder Sputnik heissen die einstigen Ferienparadiese für verdienstvolle Kommunisten. Je näher das Zentrum rückt, desto höher schiessen klotzige Neubauten in den Himmel. Petrodollars aus Moskau verwandelten die Gartenstadt in den Boomjahren langsam in einen Betondschungel. Doch nun in der Krise stehen viele Kräne still und bereits gebaute Wohnungen leer.
Diese Altlasten irritieren Bürgermeister Anatoli Pachomow jedoch nicht: «Sotschi wird eine ganz neue Stadt», sagt der 49-Jährige mit leuchtenden Augen. Wenn nicht bis 2014, dann eben bis 2030. «Die Olympiade dient nur als Impuls», erklärt Pachomow, ein Mitglied der Kreml-Partei Einiges Russland. «Wir haben alles: Thermalbäder, das Meer, die Berge», fügt er hinzu und meint: «Das wird besser als in der Schweiz.» Ein im lokalen Kunstmuseum ausgestelltes Modell gibt Einblick in die von St.Petersburger und Moskauer Architekten entworfene Vision: Ein Achtsternhotel in Ufernähe, ein breites Strassennetz oder eine völlig neue Strandpromenade sind nur einige von vielen Projekten. Die Krise dürfte ihre Umsetzung aber verzögern, wenn nicht gar verhindern. Vom Bau einer künstlichen Insel hat man sich bereits verabschiedet.
Sotschis konkrete Zukunft beginnt derzeit auf einem Stück Schwemmland: in der Imeretinskaja-Bucht beim Flughafen, zwischen den Mündungen der kaukasischen Bergflüsse Msymta und Psou. Wo einst Pelikane Rast machten und Sowchosbauern die fruchtbare Erde pflügten, werden derzeit die Fundamente für ein offenes Stadion und fünf Eisarenen in den sumpfigen Untergrund getrieben.
Nach den Spielen sollen nur die zwei grössten Sportpaläste übrig bleiben, denn Wintersport hat im subtropischen Sotschi bislang keinerlei Tradition. An ihrer Stelle ist ein Freizeitpark geplant. Zudem träumen die Verantwortlichen von einem Formel-1-Parcours und der Austragung von Fussball-WM-Spielen 2018, für die sich Russland bewirbt. Während die Politiker grandiose Pläne entwerfen, haben viele Einwohner jedoch andere Sorgen. Noch immer ist das Schicksal vieler Menschen offen, deren Häuser dem Olympiapark weichen müssen. «Wir haben seit drei Jahren keine Zukunft», sagt Oleg Schtscherbinski. Der Gemüsebauer wohnt in einer einfachen Hütte direkt am Meer, wo er 23 Aaren Land bewirtschaftet. Sein Besitz wurde bereits zweimal eingeschätzt, zuerst auf zwei, dann auf eine Million Dollar. Geld will Schtscherbinski aber nicht. Wer weiss, ob der Staat es wirklich überweist oder die Bank es nicht konfisziert. Der 53-Jährige wünscht sich einfach wieder ein Stück Land am Meer. Dass er es kriegt, glaubt er aber nicht. Obwohl in der Imeretinskaja-Bucht derzeit eine schmucke Einfamiliensiedlung für die Vertriebenen entsteht, bleibt das Misstrauen in die aus Erfahrung korrupten russischen Behörden gross. Einige Einwohner haben deshalb bereits eine Klage am Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg eingereicht.
Auch im Bergdorf Krasnaja Poljana hadern die Menschen mit der rasanten Entwicklung, obwohl die Gemeinde derzeit ein neues Spital erhält. Hier, 40 Kilometer die Msymta weiter flussaufwärts, sollen 2014 die Skiwettkämpfe stattfinden. Bis vor kurzem gab es in dem verschlafenen Nest nur vier veraltete Sessellifte an einem Berg. Doch seit der russische Premierminister Wladimir Putin an den Pisten Gefallen fand, wird alles anders. Heute gibt es drei weitere Skigebiete. Eines davon hat Gasprom finanziert mit dazugehörigem Grandhotel und angrenzender Staatsresidenz. Das ganze Tal ist zurzeit eine einzige Grossbaustelle, denn bis 2013 soll es eine direkte Strassen- und Eisenbahnverbindung zum Olympiapark geben. Weil dazu in Nationalparks auch geschützte Baumarten gerodet wurden, kündigte der WWF zu Beginn dieses Monats seine Kooperation mit den Olympia-Organisatoren auf.
Selbst um Mitternacht rasen die Laster im Sekundentakt durch das Bergdorf. Wintertouristen hingegen gibt es nur wenige. Der Grund dafür ist nicht nur der Baulärm, sondern auch der Schneemangel. Nur auf den Gipfeln über 2000 Metern lag Mitte Februar eine dünne Nassschneedecke.
«Das Negative überwiegt», sagt selbst Sergei Prosorow, der in Krasnaja Poljana ein kleines Hotel betreibt. Schwierig sei es vor allem für die alten Menschen: «Die Preise steigen, aber die Renten und Löhne bleiben die gleichen.» Touristen, so erklärt der 37-Jährige, habe es auch früher genug gegeben. Kategorisch will der ehemalige Seemann die Olympiade jedoch nicht ablehnen. Er streicht sich über den kahlen Kopf und meint: «Es bewegt sich viel, aber das macht auch Angst.»