Unter dem Namen Chride-Röösi war Rosa Zgraggen in Dietikon ein Begriff, galt als schillernde Figur, aber auch als unnahbar. Als Frau in einem männlich geprägten Wirtschaftsumfeld hatte sie den Mut, in Kriegszeiten eine Fabrik zu gründen.
Von Jürg Krebs
Auf seiner Suche nach spannenden Dietiker Persönlichkeiten stiess Lokalhistoriker Hans Peter Trutmann auf die schillernde Figur der Rosa Zgraggen, genannt Chride-Röösi, deren Biografie er nun für die Nachwelt nachgezeichnet hat. Trutmann standen für seine Arbeit nur ganz wenige offizielle schriftliche Informationen zur Verfügung. Immerhin sind einige Schnappschüsse von der Frau erhalten, die im Ort zwar ein Begriff war, die aber fast niemand persönlich gekannt hatte. So trug Trutmann notgedrungen zusammen, was ihm ältere Dietikerinnen und Dietiker über Rosa Zgraggen zu berichten wussten. Das Resultat seiner Recherche hat Trutmann im Parteiblatt der CVP Dietikon, der «Limmatpost», publiziert.
1942: Europa war im Chaos des Zweiten Weltkrieges versunken, die offizielle Schweiz versteckte sich im Reduit. In dieser angsterfüllten Zeit hatte die 36-jährige Rosa Zgraggen den Mut, in Dietikon eine Kreidefabrik auf die Bei-ne zu stellen. Das blieb nicht ohne Wirkung auf die örtliche Gesellschaft.
Sie, die Zugezogene, wirkte auf die Ortsansässigen über die Massen unkonventionell. Ihre Erscheinung sei elegant, zumindest distanziert gewesen, und trotzdem wurde ihr ein besonde-rer Charme attestiert. Ein Charme, von dem Fotografien Zeugnis ablegen. Darauf wirkt sie freundlich, fröhlich, selbstbewusst. Im Berufsleben sei sie omnipräsent, streng, resolut, gar herrisch gewesen. Dass sie nie verheiratet war, zeitlebens Fräulein geblieben war, mag zur Legendenbildung beigetragen haben. Auf jeden Fall ist sie Zeitgenossen in Erinnerung geblieben. In durchaus guter Erinnerung, wie Hans Peter Trutmann anmerkt.
Rosa Zgraggen wurde 1906 in eine Aargauer Bauernfamilie aus Eggenwil hineingeboren und ist dort aufgewachsen. Ungewöhnlich für die Zeit absolvierte sie als Frau in Wohlen eine Drogistenlehre. Schon damals soll sie sich mit der Kreideherstellung befasst haben, mit der sie später bekannt werden sollte. Mit 26 Jahren und mittlerweile in Steg im Tösstal wohnhaft begann Rosa Zgraggen mit der Kreideherstellung in grösserem Stil. Zur Produktion zog sie einheimische Frauen heran. 1933 trug sie ihr Geschäft als Einzelfirma R. Zgraggen ins Handelsregister ein. Es soll sich um die erste Kreidefabrik in der Schweiz gehandelt haben. Ihr Fachwissen eignete sie sich vor dem Krieg unter anderem in Deutschland, dem führenden Kreideproduzenten, an.
Zgraggens Geschäft gedieh - der Platz im Tösstal wurde zu eng. Das war der Moment, in dem Rosa Zgraggen die Dietiker Bühne betrat. 1942 - mitten in im Zweiten Weltkrieg - erwarb sie südlich des Bahnhofs das Asilo Italiano. Für Trutmann ein mutiger Akt selbst für Optimisten. Wie ihr weibliches Unternehmertum auf die Herren der Wirtschaft, die damals noch unter sich waren, gewirkt hatte, wäre interessant, ist aber nicht überliefert. Im 1956 gegründeten Dietiker Industrie- und Handelsverein war sie jedenfalls nie Mitglied.
Um die Qualität ihrer Produkte hochzuhalten, beschäftigte sie einen deutschen Spezialisten. Die Belegschaft bestand in Dietikon nicht mehr aus Frauen, sondern aus etwa zwanzig vor allem italienischen Arbeitern, welche die staubige Arbeit mit Tafelkreide, später Gips, Farbpulver und Wasser zu geringen Lohnkosten erledigten.
Eingepackt wurden die runden und eckigen, weissen, aber auch farbigen Kreidestücke in ihrem Heimatdorf Eggenwil. Mit dem Transport betraut war die Dietiker Fuhrhalterei Walter Naef.
Zgraggens Kreide wurde unter der Marke Signa vertrieben, erfolgreich, obwohl Zgraggen auf dem Markt von den Firmen Plüss-Stauffer und Stimo-Kreide bedrängt wurde. Die Kreide wurde in Papeterien, Warenhäusern und Lehrmittelverlagen verkauft. Auch in Dietikon wurden Wandtafeln mit Signa-Kreide bestrichen. Noch heute, so Trutmann, sei die eine oder andere Signa-Schachtel in den hintersten Ecken der Schulhäuser zu finden.
Hinter dem Fabrikgebäude gehäufte Produktionsreste waren laut Trutmann bei Dietiker Kindern und Jugendlichen beliebt. Eine Kreide in der Hosentasche war in den 1950er-Jahren durchaus ein Statussymbol. Statt Wände besprayt wurden Strassen bemalt.
Eine Aktiengesellschaft unter dem Namen Signa wurde erst 1973 gegründet. In dieser hatte Rosa Zgraggen aber keinerlei Funktion mehr. Sie verkaufte Areal und Betrieb. Trutmann schliesst daraus, dass die mittlerweile 67-Jährige in den Ruhestand treten wollte. Ihre Firma bestand noch vier Jahre weiter und wurde aus wirtschaftlichen Gründen 1977 eingestellt. Zwei Jahre später übernahm die Rapid AG das 9000 Quadratmeter grosse Signa-Gelände. Heute wird auf Si-gna- und Rapid-Areal ein neuer Stadtteil errichtet.
Privat ist Rosa Zgraggen aus Dietiker Sicht gemäss Trutmann kaum zu fassen. Sie heiratete nie, hatte keine Kinder, trotzdem blieb sie nicht beziehungslos. Als Verehrer in mittleren Jahren nennt Trutmann einen Fliegeroberleutnant Wiprächtiger. Allgemein bekannt hingegen sei ihre Beziehung zu Fuhrhalter Walter Naef senior gewesen. Gemeinsam sah man beide vor allem auf Ausritten. Zgraggen auf ihrer Madame Pompadour, einem Schimmel. Sie ritt fast täglich mit der Stute aus. Später mit Madame Pompadours Nachfolgerin Mikosch. In Reitstiefeln, mit Helm und Peitsche und begleitet von ihren Hunden, gab sie ein eindrucksvolles Bild.
Spektakulär an Rosa Zgraggen waren zudem ihre Limousinen. Trutmann zählt einen Hudson, einen Rover und einen Jaguar auf. Die Frau demonstrierte, dass sie es geschafft hatte.
An der Dietiker Gesellschaft nahm Rosa Zgraggen nicht oder kaum teil. Sie habe sich an ihren Heimatkanton Aargau gehalten, so Trutmann, und aktiv an der Badenfahrt teilgenommen. In Dietikon selbst wurde sie am ehesten am Schalter der Volksbank und in den Gaststätten Ochsen oder auch mal Hecht gesichtet.
Gewohnt hat Rosa Zgraggen in Dietikon zuerst im zweiten Stock des eigenen Fabrikgebäudes an der Grünaustrasse 26. Im Jahre 1953 hat sie das herrschaftliche Landwirtschaftsgut Bibermühle in Diessenhofen erworben, blieb aber nur einige Jahre dort wohnen. 1962 zog sie nach Weiningen, später nach Erlenbach. Sie starb 1982 76-jährig an einem Krebsleiden.
Rosa Zgraggen mag in Dietikon wenig greifbar gewesen sein, sie mag aus heutiger Sicht kaum Spuren hinterlassen haben - für ihre Zeitgenossen war sie offenbar ein Ereignis. In die Dietiker Geschichte ist sie trotzdem eingegangen: als mutige, unabhängige und schillernde Chride-Röösi.