Familieninterview
«Ich habe nie verbrannte Erde hinterlassen»

Redaktoren treffen ein spannendes Familienmitglied. az-Redaktorin Sophie Rüesch hat ihre Mutter interviewt. Katharina Kerr über ihre Jugend im Aarau der 1950er-Jahre, ihre Fiche und ihren Weg in die Politik.

Sophie Rüesch
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Nicht nur die Liebe für Bücher hat Sophie Rüesch von ihrer Mutter Katharina Kerr geerbt.

Nicht nur die Liebe für Bücher hat Sophie Rüesch von ihrer Mutter Katharina Kerr geerbt.

Annika Bütschi

Ich besuche meine Familie in der Adventszeit in meinem Elternhaus in Aarau. Meine Mutter serviert Mailänderli, mein Bruder und ich schütteln den Kopf. Sie konnte es also auch dieses Jahr nicht lassen, Guetzli zu backen.

In deinen 16 Jahren im Grossen Rat und 10 Jahren im Aarauer Einwohnerrat wurdest du als unerbittliche Debattiererin bekannt. Wieso bist du so streitlustig?

Katharina Kerr: Ich bin überhaupt nicht streitlustig. Ich habe am liebsten Harmonie. Aber keine faule Harmonie. Bis man zu einem Konsens kommt, muss man diskutieren. Und man muss sich Respekt verschaffen. Das schafft man nicht mit einem Augenaufschlag, sondern mit Kompetenz, klaren Worten und indem man keine Angst vor dem Gegner zeigt. Neben dem Parlamentsbetrieb habe ich mit Leuten aller Parteien gute Gespräche führen können. Man muss wissen, welche Rolle man in welcher Situation einnimmt.

Das muss jeder Politiker und jede Politikerin. Trotzdem wirst du als spitzzüngiger und angriffslustiger als andere wahrgenommen.

Das bereitet mir natürlich auch Vergnügen. Wie ich mit Vergnügen Heinrich Heine mit seiner kenntnisreichen Ironie lese.

Die Gesprächspartnerinnen

Katharina Kerr (70) ist in Argentinien geboren und aufgewachsen. Nach einem Germanistik- und Hispanistikstudium und diversen Lehrtätigkeiten hat sie das Robert-Walser-Archiv in Zürich aufgebaut. 1977 trat sie SP und VPOD bei. Sie war 10 Jahre lang Einwohnerrätin in Aarau und 16 Jahre lang Grossrätin. Heute ist sie Präsidentin des VPOD Aargau. Ihre Tochter Sophie Rüesch (29) ist mit ihrem älteren Bruder in Aarau aufgewachsen. Sie hat Anglistik und Germanistik in Zürich und London studiert und ist seit 2012 Redaktorin der az Limmattaler Zeitung. Sie wohnt in Zürich. (nch)

Du bist in Argentinien geboren, weil dein jüdischer Vater es 1939 nicht darauf ankommen lassen wollte, ob die Nazis auch die Schweiz einnehmen. Hat dein Einsatz für Minderheiten auch etwas mit deiner eigenen Biografie zu tun?

Ich hatte schon als Kind einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Was mich irritiert hat, musste ich angehen. Ich war auch mein Leben lang in einer Minderheit: In Argentinien wurde ich in der Schule wegen meiner weissen Haut «la rubia» – die Blonde – genannt. In der Schweiz war ich die Fremde. Dann wird man als Frau behandelt, als gehöre man einer Minderheit an, obwohl man in der Mehrheit ist.

Wie war die Rückkehr in die Schweiz, im April 1951?

Es war eine Übersiedlung in die tiefe, graue, verregnete Provinz. Ich habe mich anfangs gewundert, wie meine Mutter in Argentinien immer so schwärmen konnte von der Schweiz und von Aarau. Hier war man nicht grosszügig, die Tanten und Onkel waren überkritisch. Als ich etwa in meinem Carnaval-Kostüm an die Fasnacht wollte, haben meine Tanten gemeint: Da hat aber der Herr Pfarrer keine Freude!

Deshalb hast du uns immer so unorthodox an die Fasnacht geschickt!

(Lacht) Kann sein. Auf jeden Fall dachte ich: Was geht es den Pfarrer an, in welchem Kleid ich es lustig habe? Ich gehörte nie ganz dazu, bis heute nicht, und so ist es mir auch wohl. Wenn ich nicht ganz dazugehöre, kann ich die Welt kritisch von aussen betrachten. Auch mich und die Meinen betrachte ich kritisch.

Wie war es damals, mit einer alleinerziehenden Mutter aufzuwachsen?

Sehr lehrreich und sehr schlimm. Die Kinder aus meiner Klasse durften etwa nicht an meine Geburtstagsfeiern kommen. Der Grund war, dass meine Mutter geschieden war. Und unser sozialer Status. Dazu musste meine Mutter jedes Jahr unsere Aufenthaltsbewilligungen erneuern, weil sie die Schweizer Staatsbürgerschaft bei der Heirat verloren hatte und Jahresaufenthalterin war – in ihrer Heimatstadt. Doch das machte mich nicht traurig, im Gegenteil: Ich wurde wütend und habe gegen Ungerechtigkeiten angekämpft.

Gekämpft hast du auch gegen deinen früheren Arbeitgeber, Elio Fröhlich, unter dem du in den 1970er-Jahren das Robert-Walser-Archiv aufgebaut hast.

Der Umgang der Stiftung mit den Manuskripten war fragwürdig. Der Zugang zu den Schriften war schwierig, obwohl Robert Walsers Schwester den Nachlass an Dr. Fröhlichs Carl-Seelig-Stiftung unter der Bedingung abtrat, dass alle Dokumente zugänglich gemacht werden. Der Nachlass konnte nicht professionell gepflegt werden. Als ich Verbesserungsvorschläge machte, akzeptierte Fröhlich das nicht. In meiner Ferienabwesenheit wurden die Schlösser im Archiv ausgetauscht, ich wurde ausgesperrt.

Der Streit endete vor Gericht.

Genau. Es gab einen Fall vor Arbeitsgericht, der in einem für mich guten Vergleich endete. Dazu gab es eine Aufsichtsbeschwerde gegen die Stiftung. Der Beschwerde haben sich Max Frisch, Peter Bichsel, Adolf Muschg, Dieter Bachmann und weitere namhafte Persönlichkeiten angeschlossen. Wir haben gewonnen: Der Zugang zum und die Aufsicht im Archiv wurden geregelter.

Redaktoren im Gespräch mit Verwandten

Weihnachten und die ersten Tage im neuen Jahr sind die Zeit der Familie. Wie jedes Jahr geht man bei der Grossmutter auf Besuch oder lädt die lieben Verwandten ein. Auch Redaktoren und Redaktorinnen der «Nordwestschweiz» haben ein spannendes Familienmitglied getroffen - und mit ihm ein persönliches Gespräch geführt. Entstanden ist eine neunteilige Serie. Dies ist Teil 2.

Wie kam es überhaupt, dass du die erste Walser-Archivarin wurdest?

Chuzpe! (lacht) Ich ging zum Stiftungspräsidenten Elio Fröhlich, erklärte, dass ich eine Dissertation über Walser schreibe, und gerne das Archiv aufbauen würde.

Ohne Augenaufschlag?

Mit Augenaufschlag. Ich war damals dreissig. Herr Doktor Fröhlich hat sich wohl mit mir verrechnet. Während der Streitigkeiten hat er mir einmal gesagt: «Jetzt habe ich extra eine Frau angestellt, damit es keine Probleme gibt.» Nach mir kamen übrigens drei Männer.

Heute sagst du immer, du bereuest, wegen des Archivs dein Germanistikstudium abgebrochen zu haben.

Ja, ich bereue es sehr.

Der Aufbau des Walser-Archivs ist doch viel wertvoller.

Ich hätte es so betrachten können, doch es wäre mir wie eine Ausrede vorgekommen. Meine Mutter hat auf vieles verzichtet, damit ich studieren konnte.

Nach dem Archivstreit warst du Journalistin bei der «Basler Zeitung».

Ja, dort habe ich mich auf Inlandthemen, Kultur, Ausländer- und Umweltpolitik spezialisiert. Ich habe aber schon früher geschrieben, etwa für das «Aargauer Tagblatt» und das «Badener Tagblatt», die «Zürichsee-Zeitung» oder das «Tages-Anzeiger»-Magazin. Die Arbeit bei der «BaZ» trug mir übrigens eine Fiche ein.

Wieso denn das?

Ich habe für eine Recherche mit der jugoslawischen Botschaft telefoniert. Das hat gereicht.

Der Journalismus befindet sich im Umbruch. Niemand weiss so recht, wo es hingeht, viele fürchten um ihre Stelle. War früher alles besser?

Vieles war besser, ja. Es gab noch einen Tarifvertrag. Man konnte viel professioneller arbeiten, weil man für die Recherche noch Zeit hatte. Es war aber auch damals schon ein sehr anstrengender Beruf.

Hast du deshalb aufgehört?

Nein, das war, weil ich mit 39 schwanger wurde – als ich mit Kindern gar nicht mehr gerechnet hatte.

Bereust du manchmal, dass du so spät Mutter wurdest?

Nein. Ich hätte früher keine Kinder gewollt. Ich wollte zuerst berufstätig sein.

Für die Erziehung der Kinder bliebst du dann daheim.

Ja, doch das alleine hat mich nie erfüllt. So habe ich für den Einwohnerrat kandidiert und bin 1983 nachgerutscht.

Politik als Flucht vor den Kindern?

Als Möglichkeit, nicht im häuslichen Sumpf zu versinken. Ich nahm eure Erziehung sehr ernst. Doch ich dachte, auch ihr würdet davon profitieren, wenn die Mutter nicht ständig zu Hause ist. Oder hast du es je als störend empfunden, dass ich mich engagierte?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe mich nicht vernachlässigt gefühlt, wenn du das meinst. Wir sind aber auch trotz deines Engagements in einem sehr traditionellen Familienmodell aufgewachsen: Der Vater arbeitet Vollzeit, die Mutter ist die meiste Zeit für die Kinder da.

Natürlich kamt ihr für mich an erster Stelle. Aber ich habe mich nie als Hausfrau betrachtet. Meine Interessen waren nicht die häuslichen.

Deine Generation hat uns heutigen Frauen den Weg vorgespurt. Findest du, euer Erbe ist in guten Händen?

Bei vielen Frauen ist das Bewusstsein vorhanden. Doch es gibt immer noch zu viele Frauen, die nicht wissen wollen, wovon sie heute profitieren und dass sie damit auch eine gesellschaftliche Verpflichtung haben.

Vermisst du die politische Bühne?

Überhaupt nicht. Ganz weg bin ich auch noch nicht. Ich bin noch VPOD-Präsidentin und mache die Aargauer Ausgabe der SP-Zeitung «links».

Wirst du dich je komplett zurückziehen können?

Natürlich. Ich hatte noch nie Mühe, etwas hinter mir zu lassen. Ich habe Vertrauen in meine Nachfolger und Nachfolgerinnen und schaue gerne auf meine Zeit in der Politik zurück. Auch wenn ich nicht alle Ansprüche erfüllt und sicher auch Fehler gemacht habe: Ich habe nie verbrannte Erde hinterlassen.