Die 21-jährige Meienriederin Nora Jaggi hat ein halbes Jahr in einer Gastfamilie in Perus gelebt und in einem Spital gearbeitet. Die Begegnungen, Erlebnisse und Erfahrungen in der Fremde haben die junge Frau geprägt – «für das ganze Leben», wie sie meint.
Denise Gaudy
Aus ihren klaren, blaugrünen Augen spricht Warmherzigkeit. Wenn sie vom siebenmonatigen Aufenthalt in Südamerika erzählt, sprudelt die Begeisterung buchstäblich aus ihr heraus. Die 21-jährige Meienriederin Nora Jaggi war mit der Kulturaustausch-Organisation AFS in Peru, wo sie in einer Gastfamilie in der Stadt Chiclayo direkt am Pazifik im Norden lebte und in einem Spital auf dem Land arbeitete.
«Meine Erwartungen wurden mehr als erfüllt», strahlt die junge Frau, die fliessend Spanisch sprechen gelernt hat. «Ich habe eine zweite Familie gefunden, viele neue Freunde und eine wunderbare Kultur kennengelernt. Und ich bin, dank unzähligen wertvollen Erfahrungen, mit einem Lebensziel heimgekehrt.»
Je ärmer, desto herzlicher
Nach Abschluss ihrer Lehre als medizinische Praxisassistentin vor einem Jahr war der Seeländerin klar: «Ich wollte mich engagieren für ärmere und schwächere Menschen. Südamerika hatte mich schon immer gereizt, wegen der Sprache, aber auch wegen der sprichwörtlichen Lebenslust und Offenherzigkeit der Bevölkerung und der Vielfalt der Landschaft.» Die Organisation AFS war Jaggi zwar ein Begriff, hatte ihre beste Freundin doch ein Schüler-Austauschjahr in Alaska verbracht.
Erst auf der AFS-Website hatte die junge Berufsfrau aber entdeckt, dass über die Organisation auch Sozialeinsätze ermöglicht werden - in verschiedenen Institutionen wie Heimen für Benachteiligte, Schulen, Spitälern aber auch in Bereichen wie Menschenrechte oder Umwelt- und Naturschutz.
Besonders beeindruckt hat Nora Jaggi die Solidarität und Selbstlosigkeit der Menschen in Peru: «Es ist unglaublich, wie man sich gegenseitig hilft und unterstützt und die wenigen Mittel, die zur Verfügung stehen, miteinander teilt. In Peru habe ich erlebt; je ärmer ein Mensch, desto grösser sein Herz.» Im Spital arbeitete sie auf der Impfstation, im Labor und in einem Tuberkulose-Bekämpfungsprojekt.
Als Beispiel erzählt sie, wie sie mit einer Krankenschwester einem Patienten Medikamente gebracht habe: «Der schwer Kranke lebte in einer kleinen, mit einem Blechdach gedeckten Lehmhütte ohne fliessendes Wasser, ohne Toilette, der Schlafplatz auf dem Boden, die Küche eine offene Feuerstelle im Freien und im Stall ein paar Kühe.
Der Mann kochte uns Kartoffeln und beschenkte uns mit Milch und Avocados. Ostern stand kurz bevor, und er hatte mich inbrünstig gebeten, den hohen Feiertag im Kreis seiner Familie zu verbringen.» Nachdenklich fügt sie hinzu: «Er machte auf mich einen glücklicheren Eindruck als mancher reiche Schweizer; trotz Armut und schwerem Schicksal.»
«Ich fühlte mich immer akzeptiert»
Nicht schlecht staunte Jaggi auch über die Arbeitsbedingungen in der Zuckerfabrik in Tumán, dem Dorf, wo sie gearbeitet hatte: «Unser Spital ist zuständig für die medizinische Betreuung der Fabrikarbeiter. Die Arbeiter leiden unter erheblichen gesundheitliche Problemen, zum Beispiel, weil sie ohne Ohren- oder Atemschutz Lärm und giftigen Dämpfen ausgesetzt sind.»
Wie fühlt sich eine junge Schweizerin, die sich den Luxus eines Flugs nach Südamerika leisten kann, in einem Kreis von Menschen, von denen kaum jemand seine Heimatregion je verlassen hat? «Wenn die Ankunft in diesem Land für mich auch ein mittlerer Kulturschock bedeutet hatte - chaotischer Strassenverkehr, Massen von Menschen auf dem Markt, Armut wohin man schaut, als hellhäutige Europäerin in der Minderheit, strengst gelebter Katholizismus - ich fühlte mich immer akzeptiert und niemals ausgeschlossen. Vielmehr begegnete man mir mit Spontaneität, Interesse, ja Neugier.» Sie habe versucht, sich anzupassen und Menschen und Sitten zu respektieren.
Unbekanntes ausprobiert
Dass sie keine Integrationsschwierigkeiten hatte, sei in erster Linie das Verdienst ihrer Gasteltern und der drei Gastgeschwister, betont Nora Jaggi. «Sie haben mich aufgeklärt, wie ich mich zu verhalten habe, um beispielsweise nicht ausgeraubt zu werden. Oder über die gefährlichen Orte in der Stadt.
Manchmal haben sie mir auch nicht gestattet, auszugehen.» Ebenso habe sie Unbekanntes ausprobiert, das Essen etwa: «Herrlich, die Vielfalt der Peruanischen Küche, die vielen speziell gewürzten Kartoffel-, Früchte-, Gemüse-, Fisch-, Meeresfrüchte und Fleischspeisen.
Bis auf cui, gekochtes Meerschweinchen, hat mir alles geschmeckt», lacht sie. «An Weihnachten haben Verwandte einen lebenden Truthahn mitgebracht. Dieser wurde in der kleinen Küche der bescheidenen Stadtwohnung, wo meine Gastfamilie lebt, geschlachtet und abends aufgetischt.» In Peru sei sie unkompliziert geworden, was die Pünktlichkeit betrifft: «Dort kommt man mit einer Stunde Verspätung goldrichtig zum vereinbarten Termin.»
Das neue Lebensziel
Im Rahmen des Kulturaustauschs standen Reisen in andere Gegenden auf dem Programm. «Wir besuchten beispielsweise eine Schule, eine Auffangstation für Strassenkinder und ein Heim für junge Mütter, die ihre Schule nicht abschliessen konnten und mit ihren Kindern allein gelassen wurden. Dort werden sie mit dem nötigen Rüstzeug versehen, um dereinst ihr Leben selbständig zu bewältigen.»
Wie ein roter Faden zieht sich die Erkenntnis durch Jaggis Erzählungen, wie gut es uns Schweizern eigentlich geht. «Ich habe schätzen gelernt, was mir bisher selbstverständlich schien; eine gute Ausbildung zum Beispiel.» Ein Lebensziel, mit dem sie nach Hause zurückgekehrt ist, heisst: Sich als Pflegefachfrau im humanitären Bereich in Südamerika zu engagieren. Vor zwei Wochen hat sie die Ausbildung in Bern begonnen.