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Eine Sekunde, die alles veränderte

Ein winziger Moment der Unaufmerksamkeit kann Leben zerstören oder aber auch vollständig verändern. Zwei Frauen haben dies im Februar dieses Jahres in Baden aufs Schmerzlichste erfahren müssen.

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Gericht Baden

Gericht Baden

Aargauer Zeitung

Rosmarie Mehlin

Einzelrichter Bruno Meyer tagte gestern im Gerichtssaal. Mit seinen schwarzen Zuhörerbänken und den Fenstern, die kaum Tageslicht hereinlassen, wirkt er düster. Und Meyer liess ihn zusätzlich verdunkeln, weil Fotos auf eine Leinwand projiziert wurden. Bilder vom Ort des Geschehens. Ihn als «Tatort» zu bezeichnen, wäre in diesem Fall unangemessen. Tat kommt von tun und S., die dem Richter als Beschuldigte gegenübersass, hat nichts getan, sondern genau genommen etwas unterlassen, nämlich einer Velofahrerin deren Vortritt zu gewähren.

Eine sehr heikle Querung

Das Wetter, sagte ein Zeuge vor Gericht, sei in Baden an jenem Februarmorgen schön gewesen. Es sei zwar kalt, um 8.30 Uhr taghell und die Strassen trocken gewesen. Er sei als Lastwagenchauffeur von der Hochbrücke in Richtung Ennetbaden unterwegs gewesen. «Die Velofahrerin vor mir fuhr sehr korrekt.» Ob sie einen Helm getragen hatte, konnte der Zeuge nicht sagen und wie Richter Meyer feststellte, ist dieses auch nirgends in den Akten festgehalten. Was passiert war, hatte der Lastwagenchauffeur auch nicht direkt gesehen: «Ich war auf den in der grossen Kurve stehenden Gegenverkehr konzentriert, als ich einen grossen Knall hörte.»

Mit diesem Knall änderte sich für eine 49-jährige Frau ihr ganzes bisheriges Dasein in äusserst tragischer Weise. Und auch für die 30-jährige S. ist seither nichts mehr, wie es vorher war.
Dabei hatte der Tag begonnen, wie so viele andere zuvor.

S. war mit ihrem Auto unterwegs zur Arbeit auf einer Stecke, die sie schon unzählige Male zuvor gefahren war. Sie wusste, dass sie beim Abbiegen in die Schartenstrasse die vortrittsberechtigte Wettingerstrasse queren musste und wie gefährlich die Situation dort ist, da die Sicht auf den Gegenverkehr häufig durch eine rechts stehende Kolonne stark eingeschränkt ist.

Seither Tetraplegikerin

S. hielt an. «Ich realisierte einen Lastwagen auf der Gegenspur. Weil ich aber sah, dass er noch recht weit entfernt war, fuhr ich an. Fast im selben Moment gab es einen Knall und die Frau war auf meiner Windschutzscheibe. Ich hatte sie davor keinen einzigen Moment gesehen gehabt.»

Die Velofahrerin war auf die Kühlerhaube, dann gegen die Windschutzscheibe und übers Dach vom Auto von S. geflogen und hatte schwerste innere und äussere Verletzungen erlitten: Die 49-jährige Frau und Mutter ist seither Tetraplegikerin. S. hat ihr geschrieben und sie auch besucht. «Weder sie noch ihr Mann haben je schlechte Gedanken gegen mich gehabt und mir nie Vorwürfe gemacht.»

Bedingte Geldstrafe

Auch an S. ist die Tragödie alles andere als spurlos vorbeigegangen; sie leidet noch heute stark darunter, besucht eine Traumatherapie. Wegen der besonderen Betroffenheit seiner Mandantin beantragte ihr Anwalt einen Freispruch. S. war bis dahin zwölf Jahre unfallfrei Auto gefahren, hat einen ausgezeichneten Leumund. Sie ist ledig, schuldenfrei mit gutem Job. «Aber», so der Verteidiger, «es können enorme, ihre Existenz bedrohende Regressforderungen auf sie zukommen.» Er kritisierte die mangelhafte Unfalluntersuchung, sei doch unter anderem die Geschwindigkeit, mit der S. gefahren war, nicht abgeklärt worden. Bei einem Schuldspruch, so der Anwalt, sei die vom Staatsanwalt beantragte bedingte Geldstrafe von 270 000 Franken auf maximal 9000 Franken zu reduzieren.

Richter Bruno Meyer sprach S. schuldig der fahrlässigen schweren Körperverletzung «wegen mangelnder Aufmerksamkeit und Missachten des Vortrittsrechts» und verurteilte sie zu 18 000 Franken Geldstrafe bedingt und 1200 Franken Busse. Mit Hochachtung erwähnte Meyer die Grossmütigkeit, mit welcher das Opfer S. begegnet.