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Am Himalaja zeichnet sich langsam das volle Ausmass der Erdbeben-Katastrophe ab: Die Zahl der Todesopfer steigt stündlich, Tausende haben ihr Zuhause verloren, Wasser und Nahrung werden knapp. Ein schweres Nachbeben erschwert die Rettungsarbeiten.
Die Erde will nicht zur Ruhe kommen. Am Tag nach dem verheerenden Erdbeben haben gestern Sonntag neue Erdstösse Nepal in Panik versetzt. Häuser schwankten, Menschen rannten schreiend ins Freie, am Mount Everest gingen weitere Lawinen ab, sogar im 800 Kilometer entfernten Delhi musste die Metro zeitweise gestoppt werden.
Aus Angst, unter ihren Häusern begraben zu werden, hatten im Katastrophengebiet Zehntausende die Nacht im Nieselregen auf Strassen, Parkplätzen und in Gärten verbracht. Viele sangen oder beteten gegen die Angst an, während immer neue Nachbeben das Land erschütterten und die Erde düster grollte. «Ich habe kaum ein Auge zugemacht», erzählt der Überlebende Sundar Sah. «Die ganze Nacht gab es neue Beben. Ich bin froh, dass ich am Leben bin.»
Am Samstag wenige Minuten vor 12 Uhr mittags hatte ein Beben der Stärke 7,8 auf der Richterskala weite Teile des Kathmandu-Tals verwüstet. Es war das Schlimmste seit 81 Jahren in Nepal. Medien sprachen von einem «Killer-Beben». Inzwischen ist von über 2500
Toten und über 5000 Verletzten die Rede – die Zahl dürfte weiter steigen. «Die Erde wankte, als ob man bei schweren Seegang auf einem Boot ist», sagte der Journalist Kanak Mani Dixit der «New York Times», der gerade mit seinen Eltern beim Mittagessen sass.
Nepals Regierung rief den Notstand aus und bat die Welt um Hilfe. Ganze Dörfer sollen ausgelöscht oder unter Felsbrocken und Geröll begraben sein. Viele sind so abgelegen, dass es Tage dauern wird, bis das ganze Ausmass der Katastrophe absehbar ist. Am Sonntag schwärmten 10 000 Soldaten und Polizisten aus, um in den Trümmern nach Überlebenden zu suchen. Auch Bürger und Touristen packten mit an. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Viele der Eingeschlossenen sind schwer verletzt und brauchen dringend Behandlung.
Die Retter graben mit Schaufeln oder blossen Händen, weil ganze Viertel ohne Strom sind und es an Gerät fehlt. Die Wasserversorgung ist zusammengebrochen. Die Nachbeben und schlechtes Wetter erschweren die Rettung. Der Flughafen musste zeitweise geschlossen werden. Auch Helikopter, die Verletzte aus entlegenen Gebieten evakuieren, mussten vorübergehend am Boden bleiben.
In Kathmandu irrten gestern Sonntag verängstigte und traumatisierte Menschen durch ihre zerstörte Stadt. Viele weinten. Das Beben ist auch eine kulturhistorische Katastrophe. Das Tal von Kathmandu mit seinen Märkten, Tempeln und Palästen gilt als Weltkulturerbe. Vom 1832 erbauten, 60 Meter hohen Dharahara-Turm, einem Wahrzeichen Kathmandus, blieben nur noch Ruinen, 60 Leichen wurden allein dort geborgen. Auch der Durbar Square wurde dem Boden gleichgemacht. «Trauer senkt sich über uns. Wir haben unsere Tempel, unsere Geschichte, die Orte unserer Kindheit verloren», meinte die Journalistin und Autorin Shiwani Neupane.
Die Spitäler in Kathmandu werden dem Ansturm an Verletzten nicht mehr Herr, Schwestern und Ärzte sind heillos überlastet. Tausende Verletzte werden unter freiem Himmel versorgt. Vielerorts gehen Medikamente und Verbandszeug zur Neige. Es fehlt an Platz, die Leichen aufzubahren. Zehntausende haben ihre Häuser verloren. In aller Eile wurden Schulen und Behördengebäude in Notunterkünfte umgewandelt.
Dabei war die Katastrophe absehbar. Schon lange warnen Experten vor einem schweren Beben in dem kleinen Himalaja-Staat. Erst eine Woche vor der Katastrophe hatten sich Erdbebenspezialisten in Nepal getroffen, um mögliche Szenarien zu erörtern. Nepal gilt als Hochrisikogebiet, weil dort die eurasische und die indische Kontinentalplatte zusammenstossen. Die Hauptstadt Kathmandu und ihre Umgebung gehören zu den seismisch aktivsten Regionen der Welt. 1934 hatte ein Beben der Stärke 8,0 Kathmandu, Bhaktapur und Patan dem Boden gleichgemacht.