Wir sind unterdessen in Vietnam angekommen. Nach ein paar Tagen Badeurlaub in Mui Ne ist heute der Tag gekommen, an dem wir ein weiteres Mal unsere Rucksäcke packen. Ich hatte im Vorfeld mit einem Couchsurfer in Phan Thiet abgemacht.
Evelyne Brader
Grant, unser Couchsurfinghost, hat uns zwei Zimmer in einem einfachen Hotel reserviert, welche wir selber bezahlen. Er kommt uns begrüssen und erklärt uns auch sogleich, warum es im kommunistischen Vietnam keine ,normalen‘ Couchsurfings gibt: „Hier können Touristen und Fremde nicht einfach im Haus eines Lokalen übernachten, sondern dazu muss man ein Antragsformular bei der Polizei ausfüllen, welches bewilligt werden muss und man muss die Gäste täglich registrieren." Uns soll dieses Hotel, in dem Grant übrigens auch wohnt, recht sein.
Wir gehen zusammen Mittagessen und Grant erzählt uns seine Geschichte. Er ist Australier, lebt aber schon seit einem Jahr in Vietnam. Sieben Monate war er als Englischlehrer in einem Resort angestellt, da verliebte er sich in eine junge Vietnamesin. Die letzten vier Monate wohnt er nun in diesem Hotel und versucht ein Buch zu schreiben und einen Job zu finden. Er meint: „Ich werde hier wegziehen, sobald ich einen Job irgendwo auf der Welt finde, kein Geld mehr habe oder mein Buch fertig ist. Was immer zuerst kommt...."
Heute ist ein besonderer Tag, denn heute Nacht beginnt das Vietnamesische Mondjahr. Ganz Asien feiert ausgelassen Silvester und den Beginn des Jahres des Tigers.
Mai, Grants Freundin, hat uns und drei weitere Couchsurfer zu sich nach Hause für die Feierlichkeiten eingeladen. So gehen wir zuerst alle zusammen wunderbar vietnamesisch Nachtessen, verbringen eine weitere Stunde in einer urromantischen Bar um uns anschliessend mit einem Tross von Millionen von Töfflis durch die dunkle Nacht gegen das Flussbecken zu kämpfen, um um Mitternacht im Stadtzentrum zu Marschmusik und Parteiparolen ein tolles Feuerwerk zu geniessen.
Danach geht es zum Haus von Mais Grossmutter, wo sich die gesamte Familie einfindet. Das Haus ist ein klassisches ,Shophouse‘, das heisst, es ist ein Reihenhaus, dessen Parterre mit einer grossen Falttüre komplett gegen die Strasse geöffnet werden kann. Dieses Stockwerk dient als Wohnraum, Garage und Ladengeschäft. Der Boden und die Wände sind gekachelt und im hinteren Eck steht eine kleine Wohnwand mit TV und Stereoanlage, daneben ein kleiner Altar, welcher rege angebetet wird heute Abend. Das Sofa wird zur Seite geräumt, Speisen auf den Boden gestellt und wir hocken alle im Kreis darum. Ausser die 85jährige Grossmutter, die übersieht glücklich beobachten das ganze Geschehen in ihrem Haus aus der Hängematte aus, welche an einer Wand steht. Sie hatte 11 Kinder, die meisten davon heute verheiratet und wieder mit Kindern und sie sind alle da.
Plötzlich kommt eine fröhliche Hektik auf, die Kinder stellen sich dem Alter nach in eine Reihe (draussen auf der Strasse). Der älteste Sohn geht zur Grossmutter und überreicht ihr ein rotes Couvert und umarmt sie herzlich, drückt ihr zwei Küsse auf die Wange und wendet sich nun der wartenden Kinderschlange zu. Die Kinder starten einen fröhlichen und lauten Sprechgesang und gehen auf den Onkel zu. Dieser zückt aus seiner Brusttasche ein Bündel niegelnagelneuer Banknoten und beginnt diese zuerst an die Menschenschlange und dann auch an alle anderen zu verteilen. Die Schlange formt sich von neuem und der nächste Onkel wiederholt das Ritual. So geht es bestimmt eine Stunde weiter. Auch wir werden beschenkt und erhalten ,Lucky Money‘. Wir stossen alle zusammen an, essen Tết-Food (Neujahrsspezialitäten), lachen und wünschen uns "chúc mừng năm mới" (happy new year)!