Zürich
«Dann legen die Jugendlichen mir ihr inneres Elend offen»

Die Jugendforensik Zürich begutachtet und therapiert im Auftrag von Jugendanwaltschaften und Gerichten straffällige Kinder und Jugendliche, sie lehrt und forscht. Die Eröffnung der Fachstelle 2004 stellte eine europäische Pionierleistung dar. Leiterin Cornelia Bessler setzt auf die Einsicht ihrer «Klienten», um sie von weiteren Straftaten abzuhalten.

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Thomas Marth

Die Forensik hilft, Verbrechen aufzuklären. Man denkt an DNA-Analysen oder Vermessung von Einschusswinkeln. Was macht die Jugendforensik?

Cornelia Bessler: Die genaue Analyse eines Deliktes spielt auch bei uns eine wichtige Rolle. Man muss den Ablauf einer Tat kennen, um mit dem Täter arbeiten zu können. Da Jugendliche in einem bio-psycho-sozialen Umbruch stehen, müssen wir auch das Umfeld, das heisst Eltern, Lehrkräfte oder Lehrmeister, in unsere Abklärungen mit einbeziehen. Wir bieten auch deliktorientierte Behandlungen an.

Mit welchem Ziel geschieht Letzteres?

Bessler: Es geht darum, den Jugendlichen dafür zu gewinnen, sich mit der Straftat auseinanderzusetzen. Das ist das Schwierigste, da er ja nicht freiwillig bei uns erscheint und wir ihm einiges abfordern. Er soll erkennen, dass er anderen, aber auch sich selbst mit seinem Verhalten geschadet hat. Ziel der Behandlungen ist, Rückfälle zu verhindern.

Wie steht es um den therapeutischen Effekt der Strafe, die ein Jugendlicher allenfalls zu gewärtigen hat?

Bessler: Man weiss, dass bei Jugendlichen Strafen allein oder zu harte Strafen das Gegenteil bewirken. Er zieht sich dann in sich zurück, geht in den inneren Widerstand, wendet sich von der Gesellschaft ab und solidarisiert sich mit Gleichgesinnten. Damit steigt aber die Gefahr erneuter Straftaten. Es ist nicht immer ganz einfach zu vermitteln, aber die Sühne für begangenes Unrecht steht im Jugendstrafrecht nicht im Vordergrund.

Sie dürfen auch gar nicht strafen.

Bessler: Nein, Strafen und Massnahmen werden von Jugendanwaltschaften oder Gerichten festgelegt. Aber im Rahmen der
Begutachtung der Täter, was ja unsere primäre Aufgabe ist, geben wir Empfehlungen ab, wie mit dem jugendlichen Straftäter umgegangen werden soll.
Seit 2004 gibt es am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich die von Ihnen geleitete Fachstelle für Kinder- und Jugendforensik.

Was ist seither gegangen?

Bessler: Was uns zu Beginn nicht so bewusst war, ist, dass dieses Fachgebiet europaweit noch in keiner Weise entwickelt war. Wir hatten somit eine Vorreiterrolle übernommen, die in Fachkreisen interessiert zur Kenntnis genommen wurde. Mittlerweile gibt es mehrere Nachfolgeprojekte in der Schweiz, in Deutschland und Österreich. Ich denke, wir haben einen Beitrag geleistet, dass die Auseinandersetzung mit Jugendkriminalität vor einem professionellen Hintergrund geführt werden kann und dem Thema die Beachtung zukommt, die es benötigt. Speziell verweisen möchte ich auf einen von uns entwickelten Ausbildungslehrgang in Jugendforensik. Es braucht mehr Wissen im Umgang mit jugendlichen Straftätern.

Sie haben die jungen Straftäter, die wir aus teils erschreckenden Zeitungsmeldungen kennen, täglich vor sich. Wie erleben Sie sie?

Bessler: Wenn sie zu uns kommen, erleben wir sie meist als kleine Kinder, die trotzig, misstrauisch und verunsichert sind.
Die Jugendforensik wird beigezogen, wenn Zweifel an der psychischen

Gesundheit bestehen. Welches sind die häufigsten Störungen?

Bessler: Meist geht es um ein gestörtes Sozialverhalten. Diese Kinder oder Jugendlichen wissen nicht, wie sie sich im Umgang mit anderen verhalten und sich in die Gemeinschaft integrieren sollen. Sie wissen auch nicht, wie sie mit Informationen umgehen können. Sie reagieren oft impulsiv und sind schnell gekränkt. Wir sehen aber auch viele mit schweren Depressionen oder sie sind mit Alkohol- und Drogenmissbrauch konfrontiert.

Was für Delikte stehen im Vordergrund?

Bessler: Alle Jugendlichen mit schweren Delikten werden uns zugewiesen, denn hier ist es unumgänglich, auch von psychiatrischer Seite her abzuklären, was zu der Tat geführt hat. Das heisst: alle Totschläge, Vergewaltigungen, schweren Raubstraftaten. Aber wir sehen auch Jugendliche, die Bagatelldelikte begangen haben, bei denen aber auffälliges Verhalten eine Störung vermuten lässt.

Man spricht auch von Wohlstandsverwahrlosung. Zu Recht?

Bessler: Verwahrlosung ist eines der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind. Dabei gibt es Straftäter, die aus gut situierten Verhältnissen kommen, bei denen aber eine adäquate Betreuung nicht gewährleistet war. Sie haben nicht gelernt, Verantwortung zu übernehmen, und sind auf Konsum und die sofortige Befriedigung von Bedürfnissen ausgerichtet. Sie überschreiten dabei Grenzen. Jugendkriminalität ist aber eher ein Phänomen tieferer sozialer Schichten. Hier sind die Belastungen grösser, sei dies in familiärer oder ökonomischer Hinsicht.

Sind Kinder von Einwanderern anfälliger, kriminell zu werden?

Bessler: Gegen eine solche Aussage verwahre ich mich. Migrationskinder sind oft schweren Belastungen ausgesetzt: Sie mussten ihre Heimat verlassen, teils waren sie auf der Flucht schrecklichen Situationen ausgeliefert, und haben die Integration zu meistern. Das stellt Anforderungen, die viele Kinder überfordern.

Ein Viertel Ihrer «Klienten» kommt vom Balkan. Gibt es bei ihnen spezifische kriminalitätsfördernde Aspekte?

Bessler: Es gibt kein «Phänomen Balkan», denn dort existieren unterschiedlichste Kulturen. Teils kommen Kinder aber unter sehr schwierigen Bedingungen zu uns.

Was können Schwierigkeiten sein?

Bessler: Zum Teil erlernen die Eltern die Sprache nicht oder nur schwer. Die Kinder übernehmen dann viel Verantwortung. Damit wird die Hierarchie in den Familien auf den Kopf gestellt, was zu Problemen führen kann, die mit Gewalt zu lösen versucht werden. Diese Kinder sind überfordert. Ich betone das, denn oft werden überforderte Kinder gewalttätig. Sie finden keinen Ausweg. Werden sie noch bestraft, verschärft sich das Problem. Sie geraten in einen Teufelskreis.

In ihrem Auftreten wirken solche Jugendliche aber oft nicht überfordert, sondern eher überheblich.

Bessler: Gerade wenn Jugendliche sich im Inneren schwach fühlen, müssen sie nach aussen stark und mächtig auftreten. In der Gruppe kann sich das verstärken. Hier geht es um Anerkennung.

Wie können Sie das durchbrechen?
Bessler: Das ist zugegebenermassen schwierig. Zum Psychiater zu müssen, kränkt diese Jugendlichen oft schwer. Aber wie gesagt: Es sind Kinder. Wenn man ihnen mit einer klar konfrontativen, aber wohlwollenden Haltung gegenübertritt, brechen sie oft ein. Es gelingt ihnen dann, ihr inneres Elend offenzulegen. Und wenn sie spüren, dass es uns darum geht, ihnen zu helfen, dann ist der wichtigste Schritt getan. Es kommt allerdings auch vor, dass wir scheitern. Hervorzustreichen ist, dass Jugendliche lange brauchen, um zur Einsicht zu gelangen. Es lohnt sich daher, dranzubleiben.

Warum sind Jugendliche depressiv?
Bessler: Zugrunde liegen oft Beziehungsabbrüche - Scheidungssituationen, Todesfälle in der Familie oder auch Mobbing-Situationen, die grausam sein können.

Fördert das Internet die Kriminalität im sexuellen Bereich?

Bessler: Wir spüren den Einfluss des Internets. Was die Sexualität betrifft, haben die Jugendlichen oft die persönlichen Erfahrungen noch nicht gemacht, die es braucht, um die im Netz gefundenen Infos einzuordnen. Das kann Grenzüberschreitungen fördern, nicht zuletzt auch in der Sexualität. Die Reizüberflutung kann dazu führen, dass die Feinheiten, die es braucht, um sich näherzukommen, nie erlernt werden. Der Einstieg in die Sexualität erfolgt dann zu hart, gemäss pornografischem «Vorbild». Wir müssen diesen Jugendlichen klarmachen, dass es nicht nur um die Bedürfnisbefriedigung geht. Sexualität hat eine soziale Dimension. Sie sollte auf einen anderen ausgerichtet und auf Bindung angelegt sein. So kann Sexualität die intensivste Form darstellen, psychosoziale Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Nähe, Geborgenheit und Sicherheit erfüllt zu bekommen - eine Funktion, die umso wichtiger wird, je mehr die sozialen Netzwerke die jungen Menschen nicht tragen, sondern Missachtung, Geringschätzung und Austauschbarkeit signalisieren.

Jugendliche sind teils hoch verschuldet. Werden sie so eher zu Tätern?

Bessler: Sicher. Das ist ein Riesenproblem. Gefördert wird es durch das breite Konsumangebot und den sozialen Druck, da mitzumachen. Steigen einem Jugendlichen die Schulden über den Kopf, kann er auf dumme Gedanken kommen.

Im Rahmen der Begutachtung und der Behandlung ziehen Sie die Eltern mit ein. Stossen Sie da auf Verständnis?

Bessler: Meistens. Oft haben ja die Eltern bereits einen Leidensweg hinter sich. Wenn sie sehen, dass es darum geht, den Jugendlichen zu helfen, kooperieren sie. Was wir oft feststellen müssen, ist, dass kein Vater vorhanden ist. Vor allem bei jungen Männern kann das einer der Gründe sein, warum sie Mühe haben, Grenzen zu akzeptieren.