Engel, Alpöhi oder Adolf Hitler
«Ich habe die Hauptrolle in ‹Pretty Woman› abgelehnt»: Schauspieler Bruno Ganz im grossen Interview

Er spielte schon einen Engel, Heidis Alpöhi und Adolf Hitler: Der Schauspieler Bruno Ganz (76) über seine neuen Projekte, das Älterwerden – und verpasste Chancen.

Reinhold Hönle und Benjamin Weinmann
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Bruno Ganz ist mit 76 immer noch aktiv; er geniesst es aber auch, wenn er einmal nichts geplant hat und den Tag einfach verstreichen lassen kann.

Bruno Ganz ist mit 76 immer noch aktiv; er geniesst es aber auch, wenn er einmal nichts geplant hat und den Tag einfach verstreichen lassen kann.

Ruth Walz

Fast könnte man meinen, er habe die Rolle aus der Heidi-Neuverfilmung vom letzten Jahr noch nicht abgelegt. Als Bruno Ganz im Zürcher Hotel Ambassador für seine nächste Rolle zum Interview mit der «Schweiz am Wochenende» erscheint, wirkt er von der Aufmachung her eher wie der gutmütige Alpöhi und weniger als das, was er ist: Einer von Europas renommiertesten Film- und Bühnenschauspielern. Er ist da, um über seinen neuen Film, das satirische Kammerspiel «The Party», zu sprechen. Im Verlaufe des Gesprächs gibt er Brisantes aus seiner Karriere preis. So wurde er einst für die Hauptrolle in einer von Hollywoods berühmtesten Romanzen angefragt.

Herr Ganz, mögen Sie Partys?

Bruno Ganz: Nein, ich meide solche Veranstaltungen, wenn immer es geht. Die sind mir nicht sympathisch. Ich habe sie schon immer gehasst.

Im satirischen Kammerspiel «The Party» (aktuell im Kino) von Regisseurin Sally Potter läuft eine Zusammenkunft von Freunden komplett aus dem Ruder. Bruno Ganz (3. von links) spielt darin den deutschen Lebensberater und Esoteriker Gottfried. Er bezeichnet die Figur als eine der lustigsten Rollen seiner Karriere. Mit dabei sind Stars wie Kristin Scott Thomas, Timothy Spall (2. von links) und Patricia Clarkson (rechts).

Im satirischen Kammerspiel «The Party» (aktuell im Kino) von Regisseurin Sally Potter läuft eine Zusammenkunft von Freunden komplett aus dem Ruder. Bruno Ganz (3. von links) spielt darin den deutschen Lebensberater und Esoteriker Gottfried. Er bezeichnet die Figur als eine der lustigsten Rollen seiner Karriere. Mit dabei sind Stars wie Kristin Scott Thomas, Timothy Spall (2. von links) und Patricia Clarkson (rechts).

HO

Was stört Sie daran?

Ich mag sie einfach nicht. Nur schon physisch. Man steht da herum und kann sich mit niemandem richtig unterhalten. Seit ich keinen Alkohol mehr trinke, ist das nur noch langweilig.

Haben Sie früher auch mal eine Party erlebt, die so richtig aus dem Ruder gelaufen ist, so wie in Ihrem neuen Film?

Na ja, ich bin manchmal selber aus dem Ruder gelaufen, weil ich zu viel getrunken hatte. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung in einem Berner Nobelhotel. Ein mieser Journalist hat meine offensichtliche Trunkenheit ausgenutzt und ein ekelhaftes Interview daraus gemacht. Damals war ich noch so blöd, dass ich mich darauf eingelassen habe.

Waren Ihnen Festlichkeiten schon immer ein Gräuel?

Als ich zusammen mit Iris Berben das Präsidium der Deutschen Filmakademie innehatte, konnte ich mich nicht gut vor solchen Anlässen drücken. Auch bei Filmpremieren und roten Teppichen geht das schlecht, aber ich halte mich, soweit es geht, zurück. Nach der Premiere von «The Party» in Berlin ging ich mit unserer Regisseurin Sally Potter und ihrem Ehemann Chris essen. Das habe ich gerne gemacht.

In diesem satirischen Kammerspiel geben Sie den deutschen Esoteriker Gottfried, der stets die Ruhe behält, selbst dann, wenn jemand kurz vor dem Erstickungstod steht. Sind Sie auch am Set der ruhende Pol, nach dem sich jüngere Kollegen ausrichten?

Das glaube ich weniger. Auf jeden Fall ist es nicht mein Ehrgeiz oder Anspruch, aber es passiert wahrscheinlich. Oft bringt man mir zu viel Achtung und Ehrfurcht entgegen. Die muss ich dann beseitigen. Das ist keine gute Basis für die Zusammenarbeit.

Bei «The Party» arbeiteten Sie mit Sally Potter zusammen. Weibliche Regisseure sind in der Filmbranche allerdings noch immer stark unterrepräsentiert. Bedauern Sie das?

Das ist ein Thema, das seit Jahren Konjunktur hat, vor allem in Hollywood. Diese Diskussion hat sicher eine grosse Berechtigung, und es ist auch richtig, darüber zu reden – wie auch über das Vorkommen von Afroamerikanern in den US-Filmen. Aber ich sehe beispielsweise keinen Sinn darin, schematisch und durch Quoten den Frauenanteil einfach aufzustocken. Kunst ist keine demokratische Veranstaltung.

Gleich zwei Filme am Start

Bruno Ganz, der am 22. März 1941 in Zürich als Sohn eines Schweizer Fabrikarbeiters und einer Italienerin geboren wurde, machte nach der Ausbildung am Zürcher Bühnenstudio ab 1962 in Deutschland Theater-Karriere, wo er mit Regisseuren wie Peter Zadek, Claus Peymann und Peter Stein arbeitete. Mit «Der amerikanische Freund» von Wim Wenders, in dessen «Himmel über Berlin» er später einen der beiden Engel verkörperte, schaffte er 1976 den Durchbruch als Filmschauspieler. Für die Darstellung von Adolf Hitler in «Der Untergang» wurde Ganz 2004 mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet. Er lebt getrennt von seiner Ehefrau Sabine, mit der er einen erwachsenen Sohn hat.
«The Party» läuft jetzt im Kino. In Matti Geschonnecks Film «In Zeiten des abnehmenden Lichts» (Start: 17. August) brilliert Ganz als hoher DDR-Funktionär, dessen 90. Geburtstags-Feier kurz vor dem Mauerfall zur Eskalation schwelender Konflikte führt. (rhö)

Im Film geht es auch um die britische Politik, das Gesundheitswesen. Wurde darüber auch unter den Schauspielern wie Kristin Scott Thomas und Timothy Spall diskutiert?

Ja, das Gesundheitswesen ist ein grosses Thema in England, speziell, wenn man Labour nahe steht. Die Einführung nach dem Krieg war eine riesige Errungenschaft für die englische Gesellschaft, wurde aber unter Maggie Thatcher stark zurückgeschraubt. Labour hat daran bis heute schwer zu knabbern. Ausserdem gaben während der Dreharbeiten die Brexit-Kampagne und die schlechten Leistungen der Fussballer an der EM zu reden.

Dann war die Stimmung gedrückt?

Nein, Engländer lassen sich nicht so leicht unterkriegen. Erst am Morgen, nachdem der Brexit feststand, haben die Kollegen die Köpfe hängen lassen. Damit hatten sie nicht gerechnet. Es sind sogar Tränen geflossen.

Wie oft sehen Sie sich Ihre Filme an?

Nicht so oft. Manchmal passiert es unabsichtlich. Ich sitze in irgendeinem Hotelzimmer in Athen und schalte den Fernseher ein, weil ich nicht schlafen kann, und plötzlich bin ich mit mir selbst konfrontiert – in einer Sprache, in der ich kein Wort verstehe.

Gibt es Filme, die Sie heute mit ganz anderen Augen sehen?

Meistens ändere ich meine Meinung nicht. Es gab jedoch einen deutschen Film, bei dem mich der Verriss im «Spiegel» unheimlich gekränkt hat. Als ich ihn zehn Jahre später nochmals sah, dachte ich: Dieser Kritiker hat doch recht gehabt (lacht)! Ich habe es damals nur nicht gemerkt oder konnte es mir nicht eingestehen.

Haben Sie es in Ihrer schauspielerischen Laufbahn ab und zu bedauert, dass Englisch nicht Ihre Muttersprache ist?

Das bedauere ich eigentlich nicht, aber klar, Englisch ist näher am Kino als Züridütsch. Englischer Muttersprache zu sein, wäre schon ein grosser Vorteil. Ebenso, in London oder Los Angeles zu leben. Man wäre einfach näher dran.

Ihre Mutter war Italienerin. Hätten Sie gerne unter der Regie von Fellini gespielt?

Wenn Fellini mich gewollt hätte, hätte er mich haben können, aber da ist nichts passiert. Was will man machen?

Gab es berühmte Rollen, die Sie nicht reizten oder aus terminlichen Gründen ablehnen mussten?

Bei den Amerikanern weiss man nie, ob sie einen wirklich wollen oder nur mal die Fühler ausstrecken. Die bieten eine Rolle gleich einer ganzen Gruppe von Schauspielern an, wenn sie ihrem Rollenprofil in Sachen Alter, Typ und Aussehen einigermassen entsprechen, und fragen dann immer, ob man in dieser Zeit frei wäre. Da spürt man, dass noch 30 andere infrage kommen. Und wenn man dann Interesse zeigt, eiern sie herum. Ein- oder zweimal war ich für einen Film im Gespräch, der ein unglaublicher Welterfolg wurde.

Sie sollen die Titelrolle im Holocaust-Drama «Schindlers Liste» abgelehnt haben, stimmt das?

Nein. Das hat Steven Spielberg entschieden. Ich hatte ihm ein furchtbar schlechtes Video geschickt.

Und welchen späteren Welterfolg haben Sie abgelehnt?

«Pretty Woman».

Die Hauptrolle, die später Richard Gere spielte?

Ja, aber genau genommen habe ich dieses Angebot nicht abgelehnt. Es ist vielmehr irgendwie versandet. Und das andere grosse Ding fällt mir gerade nicht ein.

Sie sind Träger des Iffland-Rings, der unter den bedeutendsten Schauspielern deutscher Zunge weitervererbt wird. Wie hat sich Ihr Verhältnis zur deutschen Sprache entwickelt?

In der Zeit, in der ich zur Bühne wollte, konnte das Ziel nicht vordringlich der Pfauen (das Zürcher Schauspielhaus, Anm. d. Red.) sein. Ich wusste, dass ich aus diesem Land herausmusste. Mein Ehrgeiz war es, möglichst akzentfrei Hochdeutsch zu lernen. Das Studententheater in Göttingen war für mich eine harte Schule. Die Beschäftigung mit Werken von Autoren wie Goethe oder Kleist liessen die Hochsprache nicht nur selbstverständlicher werden, sondern das Verhältnis zu ihr auch inniger. Ich sah, was die deutsche Sprache auf diesem Niveau an Differenzierung und Ausdruck bedeuten kann, und das ist grossartig.

Sie lebten viele Jahre in Berlin. Wie stehen Sie heute zum Züridütsch?

Es ist nicht mehr so selbstverständlich. Mir ist aufgefallen, dass die heutige Generation ganz andere Ausdrücke verwendet als wir, wenn wir an der Riviera sassen und angeberisches Zeugs sagten wie «de Plausch» oder «weisch wie».

Mit Polo Hofer ist kürzlich ein Künstler verstorben, der sich sehr um die Mundart verdient gemacht hat. Haben Sie einen Bezug zu ihm und seinen Liedern?

Nein, das war nie meine Welt, obwohl ich dieser Generation angehöre. Ich erinnere mich gut an die 60er-Jahre, den Einbruch der Popwelt, vor allem mit den Beatles und den Rolling Stones. Selbst Bilder von Roy Lichtenstein wurden als Elemente der Bühnenbilder in deutschen Theatern projiziert. Es gab einen riesigen Einbruch der angelsächsischen Popwelt in die deutsche Kultur.

Und von dieser Welle wurden Sie nicht erfasst?

Ich habe einfach nie ein enges Verhältnis zur Popkultur entwickelt. Rock ’n’ Roll hat mich nicht sonderlich interessiert. Kürzlich war ich aber am Konzert der Guns N’ Roses im Letzigrund. Ich war nicht sehr beeindruckt, ausser vom Gitarristen Slash, der war toll.

Polo Hofer war streitbar, aber ein Nationalheld. Sie werden als Schauspieler und Intellektueller geschätzt. Reicht Ihnen das, oder würden Sie gerne mal stürmische Volksbegeisterung erleben?

Nein, das brauche ich nicht. Das würde mich wahrscheinlich eher erschrecken. Mir ist es recht, so wie es ist.

Andererseits spielten Sie kürzlich in der Heidi-Neuverfilmung mit. Rennen jetzt nicht die Kinder auf Sie zu und rufen: Schau, da ist der Alpöhi!

Die Kinder erkennen mich, aber Sie rennen nicht auf mich zu. Für sie ist es schwer zu begreifen, wenn sie eine Filmfigur im echten Leben sehen. Da ist der Alpöhi, aber der ist ja völlig anders angezogen. Sie hängen am Bild, das sie vom Kino kennen, das Original interessiert sie weniger.

Werden Sie nie nach einem Selfie gefragt?

Doch, Selfies verlangen alle möglichen Leute. Jugendliche weniger, eher ältere Damen. Das ist die neue Form des Autogramms.

Sie sind mit 76 Jahren weiterhin enorm aktiv, drehen Film um Film. Gönnen Sie sich auch mal Ruhe?

Ich achte darauf, dass die Abstände zwischen den einzelnen Filmen grösser werden. Wenn die Planung zu eng ist, wird es mir unangenehm, wohl auch altersbedingt. Denn für jedes Projekt braucht es eine gewisse Vorbereitungszeit. Andererseits lässt es sich manchmal nicht vermeiden. So habe ich kürzlich mit Lars von Trier gedreht. Das war sehr stressig, weil dieses Projekt ganz dicht auf einen vorherigen Dreh folgte. Aber bei so einem Regisseur kann ich nicht Nein sagen.

In Hollywood wirken Altstars wie Anthony Hopkins oder Robert Redford in lukrativen Superhelden-Filmen mit. Wäre das was für Sie?

Das sind Hollywood-Leute, die grosse Häuser besitzen, die sie finanzieren müssen. Andererseits hat mir mein Kollege, der schwedische Schauspieler Stellan Skarsgård («Mamma Mia!», «The Avengers», Anm. d. Red.), gesagt, dass er nur dank seiner Auftritte in solchen Blockbustern die Chance erhielt, in interessanten Arthouse-Filmen zu spielen. Die Produzenten schauen immer, wie bekannt die Schauspieler sind. In Los Angeles ist das nun mal so.

Sie sind froh, dass Sie diesem Druck nicht unterliegen?

Schon. Andererseits kann man auch sagen, ich hätte eine Chance verpasst, als ich um die 40 Jahre alt war. Dann hätte ich nach L. A. ziehen und mir einen Agenten suchen müssen – und regelmässig an Partys gehen.

Gibt es irgendetwas, das Ihnen annähernd so viel Spass macht wie die Schauspielerei?

Ich bin froh, wenn ich mal nichts geplant habe und den Tag einfach verstreichen lassen kann. Vielleicht gehe ich dann in der Natur spazieren, ins Kino oder lese etwas. Diese unorganisierte Freiheit schätze ich sehr.

Weshalb sind Sie von Berlin zurück in die Schweiz gezogen?

Ich wollte heimkehren. Einfach nach Hause. In eine vertraute Sprache, vertraute Sitte, vertraute Umgebung. Alles, was ich gut kenne.

Sie wohnen auf der Halbinsel Au, nicht mehr im Zürcher Quartier Seebach, wo Sie aufgewachsen sind. Wieso?

In Seebach wurde es mir zu klein. Meine Bücher lagen überall am Boden, und irgendwann erinnerte ich mich an einen Ausflug mit meinen Eltern zur Halbinsel Au. So entstand die fixe Idee, dass ich nach Au möchte. Und das hat sich dann auch ergeben.

Der Film «The Party» handelt auch vom Verlust von Utopien. Sie waren früher Sympathisant der ausserparlamentarischen Linken. Ist das politische System der Schweiz für Sie inzwischen das kleinste Übel?

Ach, die Schweiz ist doch relativ problemfrei. In Deutschland ist es anders. Deutschland ist ein grosses, wichtiges Land, ist Mitglied der Nato und der EU. Dort herrschen im Parlament andere Sitten. Die Auseinandersetzungen sind viel härter. Deutsche Politik ist interessanter, unterhaltsamer und weniger verdeckt als in der Schweiz. Aber ich bin froh, dass ich mich nicht mehr so sehr mit Frau Merkel beschäftigen muss. Hier ist es ruhiger, und ich bin alt genug, um diese Ruhe zu geniessen.

Sie haben anfangs gesagt, Sie würden nicht gerne an Partys gehen. Und was ist mit der 1.-August-Feier?

Oh, nein! Ich gehe nicht mal ans Sechseläuten. Dabei werde ich immer eingeladen, Reden zu halten und an diesem und jenem Umzug teilzunehmen. Glücklicherweise habe ich das bis jetzt alles ablehnen können.